Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
fällt es mir schwer, zwischen Schlafen und Wachen zu unterscheiden. Immer wieder frage ich mich, wo der Traum aufhört und die Realität beginnt.
Irgendwann höre ich Trommelschläge in der Ferne, dann die Ge räusche eines Feuerwerks. Ich fliege, was ich einmal für einen siche ren Hinweis darauf gehalten hätte, dass ich träume. Aber ich bin auch mit Alessia geflogen, und das war die Realität. Glaube ich jedenfalls.
Der Trommelschlag ist langsam und hypnotisch. Wie in Wasser breitet sich das Geräusch aus, und ich stelle fest, dass ich durch schwarzes Wasser gehe. Eine Gestalt kommt mir entgegen, schwarz wie das Wasser, sodass sie von dem flüssigen Spiegel zu ihren Füßen nicht reflektiert wird.
Ich kann ihre Züge selbst dann nicht erkennen, als die Gestalt nur noch wenige Schritte von mir entfernt ist. Das Gesicht ist wie flüssig und ständig in Bewegung. Schimmernde Reflexe zeigen sich darin.
Du hast gegessen, höre ich eine sanfte Stimme sagen. Du ruhst aus. Die Wunde heilt.
»Wer bist du?«
Die Gestalt antwortet nicht. Sie hebt die Hand und öffnet sie, und ein Schmetterling steigt auf.
»Ich habe keine Schmerzen mehr«, flüstere ich verwundert.
Der Schmerz kam von der Furcht. Jetzt fürchtest du mich nicht mehr. Diese Bilder, das Wasser, der Schmetterling mit den bunten Flügeln … Dies alles kommt aus deinem Geist und ist angenehm für dich. Deshalb fühlst du keinen Schmerz.
»Du hast die Bilder aus meinem Bewusstsein genommen?«
Ich habe sie mir nicht genommen. Du hast sie mir gegeben.
»Was ist mit … Alessia? War sie ebenfalls nur ein Bild?«
Plötzlich kehrt der Schmerz zurück, heftig und unerwartet. Wenn dies ein Traum ist … Warum sind die Empfindungen dann so klar und intensiv?
Die Frau namens Alessia war nicht in deinem Geist. Sie wurde aus der Stadt genommen. Sie ist Ausdruck der Stadt, ebenso wie die Masken und der Palazzo. Sie könnte auch das Wasser im großen Kanal zum Ausdruck bringen, oder einen blauen Himmel, oder andere Dinge.
»Ich verstehe nicht. Was meinst du mit ›zum Ausdruck bringen‹? Was ist real gewesen von dem, was ich gesehen habe? Die Tunnel unter der Stadt … die Mumien an den Wänden … Alles Illusion?«
Die Gestalt gleitet übers Wasser und entfernt sich von mir. Sie hat keine erkennbaren Geschlechtsteile, und Arme und Beine sind sehr lang. Offenbar denkt sie nach, und vielleicht findet sie keine geeigneten Worte.
Zwischen mir und dem Geschöpf entsteht ein dreidimensionales Bild. Es zeigt mir die rechteckige Insel, die Insel der Toten.
San Michele.
Mit dem Zeigefinger deutet das seltsame Wesen auf die Insel. Das Bild wird größer, es schwillt immer mehr an und nimmt uns in sich auf. Wir stehen jetzt auf einem Kiesweg, umgeben von Gräbern. Warmer Sonnenschein fällt auf uns. Von den Büschen und Sträuchern kommt das Summen von Insekten – es klingt wie eine Melodie.
Das Wesen wandert an den Gräbern vorbei. Es sind alte Grabstätten, mit Namen, die sich kaum mehr entziffern lassen. Dünne Finger streichen über einen Grabstein, und diese Berührung genügt, um der Schrift neue Farbe zu geben und den Stein wie neu aussehen zu lassen. Es verschwinden Moos und die von vielen Jahren geschaffene graue Patina.
Was der Stein hier zum Ausdruck bringt, ist die Nichtessenz der Zeit.
»Ich verstehe nicht.«
Du wirst verstehen, flüstert die Stimme inmitten meiner Gedanken.
Komm zu mir und verstehe.
Langsam und würdevoll entfernt sich die Gestalt. Ich kann mich nicht bewegen; meine Beine sind wie gelähmt.
»Geh nicht weg! Wer bist du? Woher kommst du?«
Das Geschöpf dreht sich um. Das Gesicht bleibt leer, aber ich gewinne trotzdem den Eindruck, dass die Gestalt lächelt.
Komm zu mir, Pater John Daniels. Komm schnell.
»Ich bin gefangen. Dies ist nur ein Traum. In der Realität bin ich gefangen. Ich kann nicht zu dir kommen.«
Was ist die Realität? Was ist ein Traum? Du bist ein Gefangener der Unterscheidung. Befreie dich von dieser Illusion, wenn du wirklich frei sein willst.
Das Wesen winkt mit einer unförmigen Hand – zumindest wirkt sie so auf mich –, und der Friedhof von San Michele verschwindet. Seinen Platz nimmt eine dunkle Zelle ein, in der ein alter, keuchender Mann auf einem Strohsack liegt.
Der Gott, an den du glaubst, hat seinen Apostel Petrus aus dem Gefängnis befreit.
Der Alte steht auf. Die Ketten fallen von seinen Händen und Füßen.
Vor unseren Augen bricht die Mauer auf. Eine Öffnung entsteht.
Die Wächter
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