Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
er sieht, dass ich zusammenzubrechen drohe.
»Halte durch«, flüstert er mir zu. »Es ist nicht mehr weit.«
Aber für mich ist es zu weit. Ich weiß nicht, wo ich die Kraft für den wilden Lauf durch den Kanal gefunden habe, aber eins steht fest: Jetzt ist nichts mehr davon übrig. Ich bin fix und fertig. Wie ein Greis schleppe ich mich durch den Schnee und spüre Schwäche in jedem einzelnen Muskel.
Ich bin zutiefst erleichtert, als Wenzel schließlich sagt: »Wir sind da.«
Wir bringen die letzte Ecke hinter uns, und plötzlich sehe ich den Markusdom vor mir.
»Früher einmal kam man wegen der vielen Touristen gar nicht in die Nähe des Doms«, sagt Durand und öffnet die große Tür.
Das Tageslicht begleitet uns in die große Basilika und drängt die Dunkelheit ein wenig zurück. Bis Wenzel und Diop die Tür wieder schließen.
Durand hebt eine große Kerze auf und zündet sie an. Die Flamme erzeugt goldene Reflexe um uns herum.
Unter meinen Füßen knirscht etwas. Vielleicht trockenes Holz, das unter meinem Gewicht splittert.
Dann senkt Durand die Kerze, und in ihrem Licht erscheint ein Schädel.
Diop und Wenzel haben ebenfalls Kerzen und leuchten damit.
Überall liegen Knochen auf dem Boden. Dutzende, Hunderte von Skeletten. Ein Teppich von Toten, der sich offenbar durch die ganze Basilika erstreckt.
Instinktiv weiche ich zurück und stoße gegen eine Säule. Durand und die anderen geben sich völlig unbeeindruckt.
»Gehen wir, John. Du hast doch nicht etwa Angst vor ein paar Knochen, oder?«
Es ist keine Angst, sondern Respekt.
Es bestürzt mich, so viele meiner Brüder an dieser Kultstätte versammelt zu sehen. Die Knochen, die menschlichen Reste, denen ich in den Gassen und Kanälen von Venedig begegnet bin … Irgendwie waren sie Teil der Stadt für mich. So schrecklich das auch klingen mag, es ist die Wahrheit. Diese Toten sind für mich ganz anders. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Venedig erkenne ich die Skelette als das, was sie einst waren: Menschen.
Offenbar haben sie sich hier versammelt, als der Krieg ausbrach, vermutlich in der Hoffnung, göttlichen Beistand zu finden. Vielleicht haben sie sogar eine Zeit lang überlebt, bevor sie dem radioaktiven Fallout und Krankheiten zum Opfer fielen.
Sie kamen hierher, weil sie beten und bei Gott Zuflucht suchen wollten.
Und dann sind sie gestorben, neben den Reliquien der alten Heiligen.
Vielleicht haben sie hier, als es mit ihnen zu Ende ging, den Glauben wiedergefunden, der ihre Vorfahren inspiriert hat und in der modernen Welt des Konsums verloren ging.
Es ist ein schwacher Trost für mich, dass so viele Menschen kurz vor ihrem Tod zum Glauben zurückfanden.
Ich würde gern vermeiden, auf ihre Knochen zu treten, aber das ist unmöglich.
Stumm bete ich für sie und denke daran, dass ich selbst dem Tode nahe bin.
»Komm, Priester«, drängt der Feldwebel.
Er fasst mich am unverletzten Arm und geht mit mir zu einer Treppe, die ins Dunkle hinabführt.
Unten finden wir etwas, das mich überrascht.
Eine mittelalterlich wirkende Krypta, erhellt von Fackeln an den Wänden. So etwas hätte ich in einer Stadt des Wassers bestimmt nicht erwartet.
Und was dort auf dem Boden liegt, zwischen den Säulen der Krypta, ist noch verblüffender.
»Tja, wir sind nicht untätig gewesen, während du in der Stadt herumgetappt bist.« Durand klingt bei diesen Worten fast vergnügt.
Auf dem Boden stehen Kisten mit Objekten aus purem Gold. Die Gegenstände sind zersägt, damit sie weniger Platz beanspruchen. Edelsteine sind rücksichtslos mit Messern gelöst oder einfach abgebrochen worden. Das Gesicht eines Heiligen ist zerschnitten und ähnelt dem von Joker, dem Widersacher von Batman.
Ich drehe mich zu dem Hauptmann um.
»Ich bitte dich! Spiel nicht den Beleidigten. Mit diesen Schätzen kann niemand mehr etwas anfangen.«
»Auch die Kirche nicht.«
Durand kneift die Augen zusammen.
»Deine Mission sieht vor, den Schatz des heiligen Markus zum Neuen Vatikan zu bringen.«
»Und die Reliquien des Heiligen, ich weiß! Aber das war nur ein Vorwand! Um den Stadtrat zu veranlassen, die Expedition zu genehmigen. Die wahre Mission besteht darin, den Patriarchen nach Rom zu bringen!«
Durand schüttelt den Kopf.
»John, John, John … Wie naiv du doch bist. Wir wissen natürlich, welchen Auftrag du von Albani bekommen hast. Wir haben es immer gewusst. Unser Auftrag besteht darin, diesen Schatz sicherzustellen, und er stammt nicht von Albani,
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