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Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Titel: Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tullio Avoledo
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marschierten ziemlich lange durch den Tunnel, bis wir schließlich weit vor uns ein schwaches Licht sahen. Es stammte von dieser Station.
    Wir rechneten damit, auf eine Rettungsmannschaft zu treffen; stattdessen stießen wir auf Dutzende verängstigter Menschen. Manche von ihnen brachten kaum einen Ton hervor. Anderen hatte es ganz die Sprache verschlagen. Wieder andere redeten dauernd, ohne dass ihre Worte einen Sinn ergaben. Sie hielten lange, wirre Reden, als hätten sie den Verstand verloren. In ihren Augen lag ein irrer Glanz …
    Einer von ihnen hielt mich fest. Er hatte eine schreckliche Kopfverletzung und war von weißem Staub bedeckt, sah wie ein Gespenst aus. An der Jacke zog er mich nach draußen, um mir etwas zu zeigen. Mit ausgestreckter Hand deutete er nach Osten.
    Über dem Himmel von Rom hatte sich eine gewaltige weiße Wolke gebildet, in der Form eines Pilzes. Da wussten wir, was geschehen war.
    Die Frau schweigt, und als sie ihren Bericht schließlich fortsetzt, ist ihre Stimme trocken wie Staub.
    Die ersten Tage waren besonders schlimm. Die Welt verdunkelte sich, als hätte jemand einen Sack über die Erde gestülpt. Es begann zu schneien. Es war ein schmutziger, dunkler Schnee. Männer und Frauen zogen wie Geister durch die Straßen. Manche von ihnen waren gefährlich. Nicht weit entfernt gab es eine Baustelle; von dort holten wir Schubkarren und Werkzeuge. Die Männer wechselten sich ab, und nach und nach wurde die Station sicherer. Wir hatten auch zwei Pistolen, um uns zu verteidigen. Einmal haben wir sie benutzt.
    Den Männern gelang es, diesen Ort in eine Art Festung zu verwandeln. Wir Frauen sahen uns die Wohnungen und Geschäfte in der Nähe des Metro-Bahnhofs an, auf der Suche nach Lebensmitteln, Batterien und Wasser in Flaschen. Als wir sicher waren, genug Vorräte zu haben, mauerten wir den Eingang zu und zogen uns in die unteren Bereiche der Station zurück.
    Es ist kühl.
    Fast kalt.
    Mein Atem kondensiert zu einer kleinen Wolke vor dem Mund.
    Zwei Monate blieben wir unten.
    Wir waren neununddreißig.
    Zweiundzwanzig Erwachsene, der Rest Kinder, die zu einem Ausflug unterwegs gewesen waren.
    Eine Gruppe machte sich auf den Weg zu dem entgleisten Zug, um den Verletzten zu helfen, die wir zurückgelassen hatten.
    Als sie zurückkehrten, berichteten sie, keine Überlebenden gefunden zu haben.
    Niemand stellte das infrage.
    Wir vergaßen die anderen, und damit hatte es sich.
    Zu Beginn des dritten Monats gingen unsere Vorräte zur Neige.
    Ich beginne mich vor dem zu fürchten, was mir die Frau zu sagen hat.
    Gewisse Dinge sind uns erspart geblieben.
    Aber sie sind passiert. Woanders.
    Oft.
    Wissen Sie noch, was der Dichter gesagt hat, Pater? Dante, in der Göttlichen Komödie.
    »Bis Hunger tat, was Schmerz nicht konnt’ erreichen …«
    Der Hunger war stärker als der Schmerz.
    Die Tür des Spinds schließt sich.
    Das Gesicht der Frau ist neben mir.
    Sie hält den Kopf gesenkt.
    Tränen strömen ihr über die Wangen.
    Ich erinnere mich an eine Zigeunerfamilie. Vater, Mutter und drei Kinder. Sie baten in den Waggons der Metro um Almosen. Oh, ich erinnere mich gut an sie. Und wenn nicht an sie, so doch an jemanden, der ihnen ähnelte. Es gab so viele Zigeuner und Bettler in der Metropolitana von Rom …
    Sie stiegen ein, und der Vater – oder einer, der vorgab, der Vater zu sein – spielte Violine, oder Akkordeon. Oder er spielte gar nichts und sagte einfach nur: »Ich bin arm und habe drei, vier, fünf kleine Kinder, die ich ernähren muss.« Und die Kinder gingen umher und hielten die Hand auf. An der nächsten Haltestelle verließen sie den Waggon und stiegen in den nächsten. Die Mutter tat so, als sei sie alt und gebrechlich oder krank. Ich sage »tat so«, denn wenn sie den Waggon verließ, humpelte sie nicht mehr, sondern ging plötzlich ganz normal. Dann fiel alles von ihr ab, die Last des Alters ebenso wie die Krankheit.
    Ich weiß nicht, ob die Zigeuner bei uns dieselben waren …
    Wie ich schon sagte, zu Beginn des dritten Monats gingen die Vorräte zur Neige.
    Und da … geschah es.
    Als Erstes verschwand das kleinste Zigeunerkind.
    Es war losgelaufen, um im Tunnel zu spielen.
    Niemand hat es je wiedergesehen.
    Vater und Mutter erhoben schwere Anklagen, aber wir behaupteten immer wieder, nicht zu wissen, was aus ihrem Kind geworden war.
    Zwei Tage später verschwand der Vater.
    Und auf unseren Tellern lag plötzlich wieder Fleisch.
    Frikadellen, das Fleisch mit Messern klein

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