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Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Titel: Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tullio Avoledo
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sonderbare Geräusche durch die Wand. Beunruhigende Geräusche. Wie ein Klagen, ein in die Länge gezogener monotoner Schrei. Der Beton verzerrte dieses Geräusch, bis er wie der Gesang eines Wales im Meer klang.
    Außerdem habe ich eine leise Stimme gehört, die eines Erwachsenen. Sie murmelte unverständliche Worte, in einem traurigen Ton, wie den Tränen nahe.
    Geräusche und Stimmen. Die ganze Nacht. Am Rande meines Wahrnehmungsvermögens.
    Vielleicht habe ich es nur geträumt.
    Vielleicht bin ich irgendwann eingeschlafen, vielleicht auch nicht.
    Ich habe geschlafen, ja, aber geträumt habe ich von etwas anderem. Es war wie eine Vision, und alles wirkte so echt, als wäre es real.
    Ich erinnere mich daran, als Kind von einem Bild fasziniert gewesen zu sein. Ich bin in einer Methodistenfamilie aufgewachsen, und das fragliche Bild sah ich im Buch eines katholischen Klassenkameraden. Es zeigte eine Frau in blauem Gewand, blond und mit hellen Augen, in den Armen ein Kind. Diese schöne junge Frau sah direkt geradeaus und schien mit ihrem Blick alles durchdringen zu können. Und das Kind lag nicht in ihren Armen, sondern saß dort, mit der seltsamen Haltung eines Erwachsenen. Seine Augen hatten die gleiche Farbe wie die der Mutter, doch die Sanftheit und Weisheit im Blick der Frau waren einzigartig.
    Die Madonna, flüsterte mein Freund. Die Mutter Gottes.
    Auch im Traum höre ich eine Stimme.
    Auch im Traum bin ich müde, als wäre ich eine Million Tage gewandert, eine Million Meilen weit. Die schmeichelnde Stimme einer Frau flüstert mir zu, die Augen zu öffnen. Und da ist sie, in Blau gekleidet. Zwar sind die Haare unter einer Kapuze verborgen, und ich sehe nur einen Teil des Gesichts, aber ich bin sicher, dass es die Frau aus dem Buch ist, die Mutter Gottes.
    Ihr Lachen ist glockenhell, wie eine süße Melodie.
    Nein, ich bin nicht die Madonna. Ich bin …
    Sie nennt ihren Namen, doch ich verstehe ihn nicht. Das enttäuscht mich.
    Bald werden wir uns begegnen.
    Sie hebt den Arm und winkt, woraufhin sich vor mir eine magische Welt öffnet: ein ruhiges Meer im warmen Licht der Sonne, darauf ein Schiff mit weißen Segeln.
    Im Traum gelingt es mir nicht, ein Wort zu sprechen.
    Die Frau dreht sich um und kehrt mir den Rücken zu. Langsam geht sie zum Meer.
    Ich bin wie gelähmt und beobachte sie reglos.
    Nach einigen Schritten sieht sie zu mir zurück.
    Sie lächelt, und ihr Lächeln ist wie die Morgenröte.
    Die Stimmen, die du hörst. Bald werden sie verstummen.
    Nach diesen seltsamen Worten scheint ihr Körper an Substanz zu verlieren und verblasst immer mehr, bis schließlich nur das Blau des Meeres bleibt, und eine Leere ohne Träume verschluckt mich. Um sechs Uhr schaltet sich die Lampe an der Decke ein. Kurz vorher habe ich noch einmal geträumt, und in diesem Traum bin ich wieder zu Hause in Medford gewesen, in unserer kleinen Stadt einige Meilen nördlich von Boston. Die Fenster standen offen, und frische Frühlingsluft bewegte die Gardinen. Das Zwitschern der Vögel kündigte den neuen Tag an, und aus dem Erdgeschoss kam das Klappern von Geschirr. Mein Vater bereitete das Frühstück vor …
    Das Licht weckt mich, und ich höre keine Vögel, sondern das Rasseln eines mechanischen Weckers aus chinesischer Produktion, ein Überbleibsel des vorigen Jahrhunderts. Und die Frühlingsbrise, die ich gespürt habe, ist der Luftzug aus dem Belüftungsgitter dicht unter der Decke.
    Ich reibe mir die Augen und flüstere ein Gebet für meine Eltern, auch für meinen Bruder und seine Familie. Es ist ein unsicheres Gebet, das zwischen der Anrufung des Schutzengels und einem Requiem schwankt.
    Tische und Stühle im Speisesaal sind an die Wände gerückt. Etwa fünfzehn Personen stehen in der Mitte des großen Raums, vor einem Altar mit einem kleinen Tisch und einem sauberen, wenn auch mehrmals geflickten Tuch. In der ersten Reihe sehe ich Diakon Fiori neben einer Frau mit weißem Haar – sie könnte seine Ehefrau sein, oder auch seine Mutter. Adèle Lombard gehört nicht zu den Anwesenden, ebenso wenig wie die Schweizergardisten.
    Ich habe keine Paramente, nur eine »Stola«, praktisch eine umfunktionierte Serviette, die ich mir um die Schultern gelegt habe. Das Kreuz hinter mir besteht aus zwei an der Wand befestigten Holzstücken.
    Ich habe gefragt, ob ich Musik für die Messe bekommen könnte.
    Jemand hat einen alten CD-Player mitgebracht, der in einem ziemlich schlechten Zustand ist – allein der Gedanke, dass er noch

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