Die Zaehmung
Tagen würde sich seine Hose sicherlich in Laufmaschen auflösen. Er betrachtete sein Hemd und sah, daß es ebenfalls voller Löcher war. Desgleichen sein wollenes Übergewand.
Zum Henker mit dieser vorwitzigen, schnippischen Göre! dachte er wütend. Jetzt, wo er die Erbin der Nevilles heiraten sollte, drohten ihm jeden Moment die Kleider vom Leib zu fallen. Wenn ihm dieses freche Biest noch einmal unter die Augen kam, würde er . . .
Rogan unterbrach seinen Gedankengang und betrachtete wieder sein Hemd. Sie hatte seine Kleider nicht waschen wollen. Wonach dieses Mädchen verlangt hatte, war ein tüchtiger Bums im Gras, und als sie diesen nicht bekam, hatte sie sich an ihm gerächt. Rache war etwas, das Rogan sehr gut verstand.
Trotz seines Ärgers — trotz der Tatsache, daß er nun für neue Kleider Geld ausgeben mußte — betrachtete er die Sonne durch die Löcher in seinem Hemd und tat etwas, das bei ihm selten war. Er lächelte. Diese vorwitzige Ding hatte keine Angst vor ihm gehabt. Sie hatte eine tüchtige Tracht Prügel riskiert, als sie Löcher in seine Kleider klopfte. Hätte er sie dabei erwischt, dann hätte er ... Er hätte ihr wahrscheinlich den Bums geliefert, nach dem sie. sehr verlangte, dachte er, immer noch lächelnd.
Er warf sein Hemd in die Luft, fing es wieder auf und begann sich dann anzukleiden. Er fühlte sich nun besser dazu aufgelegt, die Erbin der Nevilles zu heiraten. Vielleicht würde er nach der Hochzeit die blonde Schönheit wiederfinden und zusehen, daß sie bekam, was sie sich wünschte. Vielleicht würde er sie mit sich nehmen, und vielleicht würde er ihren Leib sogar mit den neun Gören segnen, die sie angeblich zu Hause hatte.
Sobald er sich angekleidet hatte, bestieg er wieder sein Pferd und ritt zu der Stelle zurück, wo sein Bruder und seine Ritter warteten.
»Wir haben lange genug hier herumgesessen«, sagte Severn. »Hast du nun so viel Mut gesammelt, daß du dem Mädchen unter die Augen treten kannst?«
Rogans gute Laune verflog. »Wenn du deine Zunge behalten möchtest, halte sie lieber still. Steig auf dein Pferd. Wir reiten. Ich werde eine Frau heiraten.«
Severn ging zu seinem wartenden Pferd, und als er den Fuß in den Steigbügel steckte, entdeckte er etwas Blaues im Gras. Er bückte sich danach und sah, daß es ein Stück Garn war. Er ließ es wieder fallen und verschwendete keinen Gedanken mehr daran, als er seinem starrköpfigen Bruder nachritt.
»Mylady«, sagte Joice zum zweitenmal und wartete. Als Liana ihr keine Antwort gab, sagte sie noch etwas lauter »Mylady!« Wieder reagierte ihre Herrin nicht. Joice blickte zu Liana hin, die geistesabwesend aus dem Fenster starrte. Seit sie gestern von ihrem langen Ritt zurückgekommen war, benahm sie sich so. Vielleicht war ihre bevorstehende Heirat daran schuld — erst heute morgen hatte man einen Boten zu Lord Stephen geschickt —, daß sie so verändert wirkte. Vielleicht steckte aber auch etwas ganz anderes dahinter. Was es auch war — Liana vertraute es niemandem an. Joice zog sich wieder aus dem Zimmer zurück und schloß die schwere Eichentüre hinter sich.
Liana hatte in der vergangenen Nacht nicht geschlafen und jeden Versuch zu arbeiten aufgegeben. Sie saß nur auf ihrer Sitzbank unter dem Fenster und starrte auf das Dorf am Fuße der Burg. Sie beobachtete das Volk, das geschäftig umhereilte, lachend und fluchend.
Die Tür flog auf und knallte gegen die Wand. »Liana!«
Es hatte keinen Sinn, sich taub zu stellen, wenn ihre Stiefmutter mit ihr sprach. Liana blickte sie kalt an. »Was wünschst du?« Sie konnte Helens Schönheit nicht ansehen, ohne dabei Lord Stephens lächelndes Gesicht vor Augen zu haben, dessen Blick zu den goldenen Tellern auf dem Kaminsims hinwanderte.
»Dein Vater wünscht, daß du hinunterkommst in die große Halle. Er hat Gäste.«
Da war eine große Bitterkeit in Helens Stimme, die Liana neugierig machte. »Gäste?«
Helen drehte sich von ihr weg. »Liana, ich glaube nicht, daß du hinuntergehen solltest. Dein Vater wird dir deinen Ungehorsam verzeihen. Schließlich verzeiht er dir alles. Sag ihm, du hättest den Mann bereits gesehen und möchtest ihn nicht haben. Sag ihm, daß du dein Herz an Lord Stephen verschenkt hast und keinen anderen mehr sehen willst.«
Nun war Lianas Neugierde erst recht erwacht. »Was für ein Mann?«
Helen drehte sich wieder ihrer Stieftochter zu. »Es ist einer von diesen schrecklichen Peregrines«, sagte sie. »Du wirst vermutlich noch
Weitere Kostenlose Bücher