Die Zahl
sitzen.« Er ging in die Küche und räumte Teller und Besteck in die Spülmaschine.
Während Capelli ihm dabei durch die Küchentür zusah, begannen ihre Gedanken wieder wie von selbst um die Mordserie zu kreisen. Irgendwie wurde es langsam unheimlich in Landau, fand sie.
»Wie lange wirst du noch hierbleiben?«, fragte sie Lorentz, um das Schweigen mit ein wenig Smalltalk aufzulockern.
»Ich weiß nicht.« Lorentz zuckte mit den Schultern. »Im Prinzip will ich, sobald der Pass wieder frei ist, fahren, was sich ja nach dem Schneetreiben nochmal hinziehen kann. Aber ich bin ohnehin gerade völlig unabhängig: Ich habe mich nämlich vor kurzem für unbestimmte Zeit beurlauben lassen und kann darum rein theoretisch bleiben, so lange ich will.«
»Wie bitte?« Capelli war erstaunt. »Ich dachte, die Dozentenstelle wäre so wichtig für dich!«
»Tja, so kann man sich täuschen«, sagte Lorentz und kratzte sich an der Nase. »Ehrlich gesagt, hat mich die Arbeit nie hundertprozentig glücklich gemacht. Ich bin nur mittelmäßig begabt, außerdem habe ich aus den falschen Motiven heraus Archäologie studiert und war dann zu feige, es zuzugeben und abzubrechen. Aber ich will dich nicht schon wieder zutexten ...« Er lächelte. »Jedenfalls bin ich an keine Verpflichtungen gebunden. Außer Peter, meinem Mitbewohner, gibt es in Wien derzeit niemanden, der auf mich wartet.«
Er dachte kurz darüber nach, was er gerade gesagt hatte. Es gab außer Peter und der verflixten Katze tatsächlich niemanden, der auf ihn wartete. Keine Frau, keine Kinder, keine heimelige Wohnung, keine erfüllende Arbeit, kein spannendes Projekt. Nichts. Niemand. Mit einem Mal überkam Lorentz eine Woge von Selbstmitleid. War das wirklich das Leben, das er wollte? Er sah Capelli an. »Und du? Bist du zufrieden mit deiner Arbeit und so?«
Sie hatte mit dieser Frage nicht gerechnet und musste erst nachdenken. »Im Großen und Ganzen schon, würde ich sagen. Viele Menschen finden meinen Job ganz furchtbar, aber ich mache ihn gerne. So komisch es auch klingen mag: Ich habe Spaß daran, und er gibt meinem Leben einen Sinn. Ich habe jeden Tag das Gefühl, dass ich etwas erreichen kann, dass meine Arbeit hilft, Verbrechen zu bekämpfen und Menschen zu helfen.« Sie hielt kurz inne und dachte daran, wie schmerzlich ihr vorhin bewusst geworden war, dass sie bei den Landauer Morden noch nicht wirklich hatte helfen können. Und es gab noch etwas, das sie an ihrem Job wurmte: Die meisten Männer, die sie kennenlernte, nahmen Reißaus, wenn sie erfuhren, was sie beruflich machte. Kein Typ fand es sehr sexy, mit einer Frau im Bett zu liegen, die vor ein paar Stunden noch in den Eingeweiden eines anderen herumgewühlt hatte.
»Und mit dem Rest bin ich auch sehr zufrieden«, log sie. Lorentz war der mit Abstand letzte Mensch auf der Welt, dem sie von ihrem verkorksten Liebesleben erzählen würde.
»Beneidenswert, Frau Leichenschnipplerin«, griente Lorentz und prostete Capelli mit seinem Weinglas zu.
»Vielen Dank, Herr Scherbenklauer.« Capelli erhob ebenfalls schmunzelnd ihr Glas.
»Schluss mit der Zankerei!«, ermahnte Morell, der mit drei vollen Tellern ins Wohnzimmer kam. »Schaut mal, ich habe Kaiserschmarrn mit Zwetschgenröster gemacht.« Er stellte die Teller auf den Tisch. »In der Küche ist noch mehr, also langt ruhig zu.«
Er schaute auf die Uhr und seufzte. »Ich muss bald los – Bender ablösen. Das wird eine lange Nacht werden.« Er dachte mit Widerwillen an die Stunden, die vor ihm lagen.
»Wieso ablösen?«, frage Capelli.
»Und wieso lange Nacht?«, fügte Lorentz hinzu.
»Weil wir Kaiser observieren und ich die Nachtschicht übernehme«, sagte Morell und streute sich eine riesige Ladung Puderzucker auf den Kaiserschmarrn.
»Einen elften und zwölften Tag liegt er da,
Enkidu liegt auf dem Lager des Todes.«
Gilgamesch-Epos
Es war, als würde sie aus einem tiefen, dunklen Wasser auftauchen. So, als würde sie aus einem schwarzen, traumlosen Schlaf erwachen. Der dicke Nebel in ihrem Kopf begann sich langsam zu lichten. Hatte sie zu viel getrunken? Alle Zeichen sprachen dafür. Das schmerzhafte Pochen in ihrem Kopf, genau hinter den Augen. Der Schwindel, die Benommenheit, das pelzige Gefühl auf der Zunge und die leichte Übelkeit. Genauso fühlte sich ein Kater an.
Ihre Sinne arbeiteten viel zu langsam. Wo war sie? Was war geschehen? Sie öffnete die Augen, aber alles, was sie sah, war Dunkelheit. Sie blinzelte, doch nichts
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