Die Zahl
des Reviers ein wenig frisch zu machen, Morell kramte währenddessen den Genz’schen Unfallbericht hervor. Er wollte gerade zurück in sein Büro gehen, als die Eingangstür energisch aufgerissen wurde. Morell musste den Blick nicht heben, um zu wissen, dass es Agnes Schubert war. Er konnte ihr aufdringliches Parfum riechen, noch bevor sie die Amtsstube ganz betreten hatte.
»Herr Kommissar«, rief sie. »Was für ein Glück, dass Sie da sind. Es ist schrecklich! Sie müssen sofort mit mir in die Kirche kommen.«
Bei den Worten ›schrecklich‹ und ›Kirche‹ musste Morell sofort an den unheilvollen Morgen vor zwölf Tagen denken. »Bitte nicht schon wieder«, stammelte er.
»Doch«, sagte die Küsterin. »Schon wieder! Also, heute früh, da komm ich in die Kirche, und was seh ich da? Ein Bild des Grauens.«
Erst jetzt realisierte Morell, dass Frau Schubert alles andere als mitgenommen wirkte. Sie war so resolut und aufgekratzt wie immer. Heute gab es kein Zittern und keine Tränen.
»Was ist passiert?«, unterbrach der Chefinspektor sie daher schroff.
»Irgendein Rüpel hat dem Jesuskind, dem armen kleinen Zwutschgerl, eine Brille aufgemalt und die Maria mit Koteletten beschmiert.«
Morell bedachte die Küsterin mit einem bösen Blick. »Und deswegen machen Sie hier so einen Aufstand? Glauben Sie, ich hätte nichts Besseres zu tun?«
»Aber heute ist immerhin Weihnachten. Und der Bürgermeister hält die Sache auch für ausgesprochen wichtig.« Sie packte Morell am Ärmel. »Kommen Sie, Herr Kommissar, gehen wir in die Kirche.«
Morell erstarrte. Frau Schuberts Dreistigkeit erschütterte ihn immer wieder.
»Pssst«, hörte er neben sich etwas zischen. »Pssssst, Chef. Da«, flüsterte Bender und deutete auf Frau Schuberts Hand, die den Arm des Chefinspektors fest umklammert hielt.
Morell musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, was Bender andeuten wollte. An Frau Schuberts Fingern klebten Reste von schwarzer Farbe.
»Was ist denn das?«, fragte er und löste ihre Hand von seinem Arm. »Sieht fast so aus, als hätten Sie selbst heute schon mit schwarzer Farbe hantiert.« Das hätte er sich eigentlich gleich denken können! Frau Schubert hatte die Schlüssel zur Kirche und sie würde alles tun, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Wenn es um ihn ging, war ihr nichts heilig. Und jetzt dämmerte ihm außerdem, dass mit Sicherheit auch das beschmierte Krippenspiel auf ihr Konto ging.
»Na gut«, sagte Frau Schubert. »Ich gestehe.« Sie streckte dem Chefinspektor theatralisch die Hände entgegen, als würde sie erwarten, dass er ihr Handschellen anlegte. »Ich werde keinen Widerstand leisten.«
Morell hatte große Lust, ihr irgendetwas anzutun, aber wenn er ihr nur irgendeine Form von Aufmerksamkeit schenkte, dann hatte sie, was sie wollte. Er atmete ein und aus und ein und aus. ›Keine Aufmerksamkeit‹, redete er sich im Stillen gut zu, ›schenk ihr keine Aufmerksamkeit.‹ Er holte noch einmal tief Luft. »Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich jetzt um Sie zu kümmern. Gehen Sie in die Kirche und zum Krippenspiel und reinigen Sie alles, dann werde ich ein Auge zudrücken.«
Frau Schubert war völlig verdattert. »Sie müssen doch wenigstens ein Protokoll aufnehmen. Ich bestehe ...«
Morell platzte der Kragen. »Gar nichts tun Sie«, schrie er. »Der Einzige, der hier auf etwas besteht, bin ich, und ich bestehe darauf, dass Sie sofort verschwinden! Und wenn nicht, dann werde ich eine Unterlassungsklage gegen Sie erwirken. Dann dürfen Sie sich mir nicht mehr als hundert Meter nähern.«
Diese Drohung zeigte endlich Wirkung. »So etwas würden Sie wirklich tun?«
»Jawohl.« Morell zeigte auf die Tür.
Tatsächlich drehte sich Frau Schubert um und ging in Richtung Ausgang. »Das ist ja sooo lieb von Ihnen, Kommissar Morell«, rief sie und drehte sich noch einmal um. »Dass Sie mich decken und nicht bestrafen. Sie sind ein echter Gentleman.« Sie schenkte ihm ein Lächeln.
Morell verdrehte die Augen und schlug sich gegen die Stirn. Irgendwann musste er dieses Problem lösen, aber nicht hier und nicht heute. Es gab Wichtigeres zu tun.
»Ist die Luft rein?«, rief Capelli und steckte ihren Kopf zur Klotür heraus.
»Ja«, grummelte Morell. »Und vielen Dank für deine Hilfe.«
»Ich hab mich nicht getraut«, sagte Capelli schmunzelnd. »Komm, ich mach uns allen eine schöne Tasse Tee.«
»Und, schon was gefunden?«, fragte Capelli, als sie mit zwei Tassen in Morells Büro kam und ihn über
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