Die Zahl
Sie hatte wirres Zeug von Zwölfen, dem Michelin-Männchen, Leander und Markus Levi geträumt. Als sie am Morgen erwachte, war sie völlig gerädert.
Sie dachte an den gestrigen Abend. Nach dem kleinen Zwischenfall war das Dinner trotzdem noch ganz nett verlaufen. Markus hatte die unbegründete Verdächtigung mit Humor genommen und war ein vollkommener Gentleman gewesen. Er hatte die Rechnung übernommen, ihr in den Mantel geholfen und sie dann zu Morells Haus gefahren, wo er sich mit einem Küsschen auf jede Wange verabschiedet hatte.
Dennoch hatte sie nicht einschlafen können. Irgendetwas hatte sie wach gehalten. Aber was nur? War es der Auftritt von Morell und Lorentz? Lorentz hatte sich unmöglich benommen, irgendwie fühlte sie sich aber auch geschmeichelt, dass er Morell begleitet hatte. Offenbar hatte er sich große Sorgen um sie gemacht.
Ein bisschen spürte sie ihren Kopf brummen. Ein kleiner Rotweinkater. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie viele Gläser sie gestern getrunken hatte. Und plötzlich fiel es ihr wieder ein. Wie aus heiterem Himmel wusste sie wieder, was Markus gestern gesagt hatte und woran sie sich beim Einschlafen nicht mehr genau erinnern konnte.
Sie traf Morell im Flur.
»Guten Morgen. Du, ich bin schon auf dem Weg ins Büro«, sagte er etwas verlegen. »Es ist noch Toast und Rührei da.«
»Ich muss dir noch rasch was erzählen«, hielt Capelli ihn auf. »Es könnte wichtig sein.«
»Gut«, sagte Morell und sah auf die Uhr, »ein paar Minuten habe ich noch.«
Sie setzten sich an den Tisch in der Küche, und Capelli lud sich eine große Portion Rührei auf einen Teller.
»Ähm, ich möchte mich übrigens noch wegen gestern entschuldigen, unser Auftritt war wohl ein bisschen daneben«, sagte Morell und griff nach einer Scheibe Toast.
»Schon verziehen. Ihr habt es ja nur gut gemeint.«
»Uff, da bin ich aber erleichtert. Erzähl, was ist dir eingefallen?«
»Du hast einmal von einem Verdächtigen erzählt, dessen Tochter einen Autounfall hatte.«
Morell nickte. »Sascha Genz.«
»Markus hat gestern so eine Bemerkung gemacht. Wir haben unter anderem über alle möglichen medizinischen Dinge gefachsimpelt. Er hat mir von einer seiner Cousinen erzählt, die sich den TH 12 gebrochen hat und seitdem querschnittsgelähmt ist.«
»Was ist ein TH 12 ?« Morell schmierte sich Butter und Marmelade auf den Toast.
»Von oben nach unten wird die Wirbelsäule in fünf einzelne Abschnitte unterteilt: Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule, Lendenwirbelsäule, Kreuzbein und Steißbein. Jeder dieser Abschnitte setzt sich aus einzelnen Wirbeln zusammen. Die Brustwirbelsäule besteht aus zwölf Wirbeln, die auch Thorakale Wirbel genannt werden. In der Medizin nennen wir sie kurz TH 1 bis TH 12 . Wenn man sich einen von ihnen bricht, dann kommt es zu einer Querschnittslähmung.«
»Verstehe«, sagte Morell und kaute. »Du glaubst also, dass sich Saschas Tochter den zwölften Brustwirbel gebrochen hat und dass das der Bezug zur Zahl Zwölf ist.«
»Es könnte doch sein. Du hast doch erzählt, dass dieser Genz ziemlich fertig ist und unter anderem Joe Anders und Andreas Adam die Schuld an seiner Misere gibt.«
»Ein interessanter Ansatz. Es stimmt tatsächlich, dass seit dem Unfall bei ihm alles den Bach runtergeht. Die Versicherung ist ausgestiegen,
weil er seine Tochter nicht angeschnallt hatte. Er sitzt deshalb auf einem riesigen Schuldenberg, und seine Ehe steht kurz vor dem Aus.« Morell, dem diese Theorie überhaupt nicht gefiel, seufzte. »Ich werde der Sache nachgehen. Ich sage Bender gleich Bescheid, damit er sich die Krankenhausakten von Saschas Tochter faxen lässt. Am besten, du kommst gleich mit ins Revier, dann kannst du dir die Unterlagen dort ansehen.«
Capelli hatte überhaupt keine Lust, das Haus schon zu verlassen. Verkatert wie sie war, hätte sie sich am liebsten wieder ins Bett gelegt. Doch dieser Fall war wichtiger als ihre Befindlichkeiten, und so ging sie zurück ins Zimmer, um sich anzuziehen. Im Flur warf sie einen kurzen Blick in den Spiegel. Sie sah furchtbar aus. Blass, mit tiefen Ringen unter den Augen, die Haare strubbelig und ungekämmt.
»Komm schon«, rief Morell, als er sah, dass Capelli noch kurz ins Badezimmer schleichen wollte. »Das hat Zeit!«
Mürrisch folgte sie ihm und hoffte, dass ihr weder Leander noch Markus über den Weg laufen würden.
Im Polizeirevier mussten sie auf die Akten warten. Capelli nutzte die Zeit, sich auf der Toilette
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