Die Zahl
Trauergäste versammelt hatten. Mindestens 40 Tische standen hier eng beieinander, und Lorentz versuchte verzweifelt, in der Masse von schwarz gekleideten Menschen seine Erzeuger zu finden.
Er fühlte sich unwohl, fremd, irgendwie fehl am Platz. Er gehörte nicht hierher. Vor ihm saßen die Einwohner von Landau, eine eingeschworene Gemeinschaft, und er war der Außenseiter, der Fremde, der andere. Er bildete sich ein, dass alle ihn anstarrten, und war daher sehr erleichtert, als er endlich seine Eltern fand.
Er steuerte auf ihren Tisch zu und stöhnte innerlich, als er sah,
dass dort nicht nur seine Eltern und seine Großmutter, sondern auch zwei ehemalige Nachbarjungs saßen: Andreas Adam und Stefan de Vries – zwei typische Vertreter der Gattung langweiliger, konservativer Spießer. Wahrscheinlich arbeiteten sie jetzt in einer Bank oder einer Versicherung, schätzte Lorentz.
Missmutig setzte er sich zu ihnen. »Servus«, raunzte er und hoffte, dass seine Mutter ihn irgendwie retten würde, was sie aber natürlich nicht tat.
»Grüß dich, Leander«, sagte Andreas. »Das ist aber eine Überraschung, dass du dich wieder einmal hier blicken lässt. Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?«
»Ich glaube, seit ich weggezogen bin.« Lorentz zog die Mundwinkel hoch und simulierte ein Lächeln. »Ist auf jeden Fall schon ein paar Jahre her.« Er hoffte, dass der Smalltalk damit beendet war, und zündete sich eine Zigarette an, was ihm vorwurfsvolle Blicke von seiner Mutter einbrachte. Er ignorierte sie geflissentlich und nahm einen tiefen Zug. Peinliches Schweigen machte sich breit.
»Deine Mutter hat erzählt, dass du Archäologe geworden bist«, unterbrach Andreas die unangenehme Stille.
»Stimmt«, antwortete Lorentz und machte sich auf unverständliche Blicke und abfälliges Grinsen gefasst. Womit er überhaupt nicht gerechnet hatte, war das enthusiastische Kopfnicken seiner Tischnachbarn. Andreas beugte sich sogar nach vorne und meinte: »Oh Mann, das finde ich total spannend! Ich wollte früher auch immer Archäologe werden – im Freien arbeiten, fremde Länder sehen, Schätze entdecken ... Erzähl doch mal!«
Lorentz war erstaunt. Er hatte eigentlich damit gerechnet, dass die Bauerntrampel nicht einmal wussten, was Archäologie überhaupt war. Nun ja, das Leben hatte hie und da doch noch eine Überraschung auf Lager.
Er lehnte sich zurück, winkte dem Kellner und bestellte ein Bier. »Erzählt ihr doch erst mal, was aus euch geworden ist.«
»Ich habe die Steuerberatungskanzlei meiner Eltern übernommen«, sagte Stefan.
»Und ich arbeite in der neuen Filiale der Volksbank«, sagte Andreas.
› BINGO ‹, dachte sich Lorentz. Er hatte mit seiner Einschätzung der beiden also doch nicht ganz danebengelegen.
Das Mittagessen verlief überraschend angenehm. Lorentz plauderte angeregt mit Andreas und Stefan und musste sich eingestehen, dass zumindest einige der Hinterwäldler nicht ganz so blöd waren, wie er immer gedacht hatte. Seine Mutter war zufrieden und somit ruhiggestellt, und das Essen selbst war wirklich gut.
»Das ist jetzt schon der Fünfte in zwei Jahren«, stellte Andreas beim Kaffee nachdenklich fest.
Lorentz schaute ihn fragend an. »Der Fünfte von was?«
»Du weißt doch das von Raimund«, sagte Stefan, aber Lorentz schüttelte nur den Kopf.
»Raimund Schelling, der ein paar Straßen weiter gewohnt hat«, half Andreas ihm auf die Sprünge. »Wir haben manchmal zusammen Fußball gespielt.«
Lorentz erinnerte sich dunkel an einen pickeligen, rothaarigen Jungen. »Was ist mit ihm?«
»Er ist auch tot – er hat sich diesen Sommer eine Überdosis Tabletten genehmigt. Und im Sommer letzten Jahres hat es Thomas erwischt.«
Lorentz nickte. »Das von Thomas Liebenknecht weiß ich«, sagte er. »Meine Mutter hat mir etwas von einem Feuer erzählt.«
»Stimmt«, sagte Andreas. »Es gab einen Brand in seiner Tankstelle – es war ein Wunder, dass nicht mehr geschehen ist.«
»Und wer noch?«, fragte Lorentz, den das anscheinende Massensterben seiner ehemaligen Spezis mehr amüsierte als traurig stimmte.
»Ich weiß nicht, ob du dich noch an Linda Frank erinnern
kannst«, sagte Stefan. »Sie war ein Jahr jünger als wir. So eine zierliche, dünne mit Zahnspange.«
»Irgendwo klingelt da etwas bei mir«, sagte Lorentz, nachdem er ein paar Momente überlegt hatte. »Das war doch so eine kleine Klugscheißerin. War bei mir in der Parallelklasse. Was ist mit der passiert?«
»Das ist eine
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