Die Zahl
hatte.
»Er hat sich sogar ein paar Mal überlegt, sich bei dir zu melden. Leider ist es nicht mehr dazu gekommen.« Iris sah ihn dabei mit einem solchen Verletzten-Reh-Blick an, dass er sich sofort unendlich mies fühlte.
Lorentz spürte, wie der Kloß in seinem Hals immer größer wurde. Er war verwirrt und durcheinander. Joe hatte ihn nicht vergessen, hatte sich sogar bei ihm melden wollen, und die eitle Zicke Iris entpuppte sich als menschliches Wesen. Es wurde ihm gerade bewusst, dass er wirklich und wahrhaftig ein unsensibler Mistkerl war.
»Ich werde dann mal langsam nach Hause gehen«, sagte er, weil er einfach nur noch weit weg wollte.
»Ja, ich auch«, sagte Iris und rieb sich die Augen. »Ich bin ziemlich erschöpft und müde.«
Lorentz fiel auf, dass sie tatsächlich ein wenig weggetreten wirkte. Da hatte wohl jemand Beruhigungsmittel geschluckt! Vielleicht war sie ja nur deshalb so nett? Womöglich lag es an den Drogen?
»Vielleicht möchtest du mich ein Stück begleiten?«, fragte sie und schaute Lorentz an.
Er wollte nicht, aber was blieb ihm anderes übrig? Er konnte der Witwe seines ehemals besten Freundes so eine Kleinigkeit doch nicht abschlagen. Außerdem spürte er den bohrenden Blick seiner Mutter im Nacken. ›Einmal Kind, immer Kind‹, dachte er. Wahrscheinlich würde sie ihn auch noch so im Griff haben, wenn er in Pension ging.
Lorentz und Iris spazierten wortlos nebeneinander her. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen, und die kalte Luft stach wie tausend kleine Nadeln in ihren Lungen. Der Himmel war noch immer so dreckig und grau wie ein alter Straßenköter, aber zumindest hatte es aufgehört zu schneien. Lorentz wusste nicht, was er sagen sollte. Er war schlapp und ausgelaugt. Der Tag war schon jetzt definitiv zu viel für ihn. Seine Sicht der Dinge wurde gerade auf den Kopf gestellt, und seine Gefühle spielten verrückt. Er war hin und her gerissen zwischen Überraschung, schlechtem Gewissen, Abneigung und dem dringenden Wunsch, so schnell wie möglich zurück nach Wien zu fahren. Vor Iris’ Haus blieben sie stehen.
»Komm doch noch auf einen kurzen Sprung mit hinein«, sagte sie.
Lorentz versprach im Geiste dem Teufel seine Seele für eine gute Ausrede. Leider wollte nicht einmal Satan persönlich dieses schwarze, verschrumpelte Stück Dreck haben.
Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als ihr ins Haus zu folgen.
»Setz dich doch bitte. Kann ich dir irgendetwas anbieten? Kaffee, Tee, einen Cognac?«
Lorentz entschied sich für den Cognac, und während Iris in der Küche verschwand, sah er sich ein wenig um.
Das Haus war ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Er hatte einen durchgestylten Schickeria-Schuppen erwartet, eine Bude wie frisch aus einem Szenemagazin für schöneres Wohnen. Aber was er hier sah, entsprach ganz und gar nicht seinen Erwartungen. Das Wohnzimmer war düster, wirkte irgendwie schmuddelig, und die Möbel waren alles andere als neu. Als ein wenig Licht es schaffte, den Dreck auf den Fensterscheiben zu durchdringen, konnte Lorentz viele Tausende Staubpartikel sehen, die durch die Luft wirbelten und dann auf dem ziemlich durchgetretenen Teppich landeten, wo sie von vielen ihrer Artgenossen und sicherlich einigen Hausstaubmilben in Empfang genommen wurden. Bereits im Hausflur waren Lorentz die vergilbten Tapeten und die altmodischen Fliesen aufgefallen.
Da saß er nun und fühlte sich wahnsinnig unwohl. Was war nur mit Iris und Joe geschehen? Waren sie verarmt oder einfach nur schlampig? Das passte alles nicht in das Bild, das er von ihnen hatte. Wo war das versnobte Möchtegern-High-Society-Paar geblieben, das er so verabscheut hatte? Hatte er ihnen wirklich so unrecht getan? Hatte er mit seiner Meinung wirklich so danebengelegen?
Iris kam wieder aus der Küche zurück. Sie trug ein großes Tablett, das sie auf dem Tisch vor Lorentz abstellte.
»Hier«, unterbrach sie seine Grübelei und drückte ihm einen bauchigen Cognacschwenker in die Hand. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl rechts von ihm. Sie sah jetzt müde aus mit ihren vom Weinen verquollenen Augen und der blassen Haut. Trotzdem war sie immer noch schön.
Es herrschte peinliches Schweigen, und Lorentz wäre am liebsten sofort im Boden versunken. Doch da weder der Himmel noch
die Hölle ihn erhörten und ihm ein Loch schenkten, in das er sich verkriechen konnte, musste er selbst dem Schweigen ein Ende bereiten. Er starrte in das große, gut gefüllte Glas.
»Und, Iris,
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