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Die Zahl

Die Zahl

Titel: Die Zahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Larcher
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das gemeine Volk, zu mischen.
    Mal sehen, vielleicht ist es ja gar keine so schlechte Sache, dass er hier ist. Womöglich könnte er mir für meine Zwecke sogar noch nützlich sein.
    Die Predigt ist langweilig und einschläfernd. Ich bin müde und kann meine Augen kaum mehr offen halten. Ich bin erschöpft von der Last, die ich zu tragen habe – wird es denn nie leichter werden?
     
    ...
    Lorentz fand es unmöglich! Ein kurzer Blick in die Kirche hatte genügt, um seine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Der halbe Ort saß wie aufgefädelt in den Bänken und wartete ungeduldig auf den Beginn der Show. Von A wie Altenpfleger bis Z wie Zahnarzt – sie waren alle gekommen: sensationsgierige Aasgeier.
    Seine Mutter hatte doch tatsächlich Angst gehabt, dass sich in einer geringen Anzahl von Trauergästen die Unbeliebtheit von Joe widerspiegeln könnte, aber er hatte ganz genau gewusst, dass sie sich diese Sorge hätte sparen können. Die beschränkten Landeier waren doch froh über jede Abwechslung, die in ihr tristes, blasses Leben trat, und da kam die Verabschiedung eines Mordopfers gerade recht.
    Beinahe alle Bänke der Kirche waren vollgestopft mit Schaulustigen. Sie saßen da, starrten auf das blumengeschmückte Foto von Josef, das vor dem Altar stand, tuschelten und warteten auf den Beginn der Totenfeier. Es hatte etwas von Kino – ein Wunder, dass sie kein Popcorn mitgebracht hatten.
    Die Polizei war da, der Metzger, der Bäcker, Freunde seiner Eltern, ein paar alte Damen aus Omas Bridge-Club und viele andere Gesichter, die Lorentz irgendwie bekannt vorkamen – Leute aus seiner ehemaligen Schulklasse, dem Schwimmverein und seiner alten Pfadfindergruppe.
    Er hätte alles gegeben, um von hier fortzukommen. Verkrustete Teller, ein leerer Kühlschrank, schmutzige Wäsche – alles war besser, als hier und jetzt, zwischen all diesen Deppen, in dieser Kirche sitzen zu müssen! Aber nein! Er hatte seine Seele verkauft für ein gutes Essen und saubere Bettwäsche. Das hatte er nun davon und musste es jetzt wohl oder übel ausbaden.
    Auftritt des Pfarrers. Die Messe begann, und Lorentz fadisierte sich jetzt schon.
    Er hatte nichts gegen Religion, ganz im Gegenteil. Er glaubte an Gott. Er war davon überzeugt, dass Gott ein cooler Typ war, der sich hier bestimmt auch gelangweilt hätte.
    Lorentz sagte in Gedanken alle römischen Kaiser in der richtigen Reihenfolge auf und versuchte sich anschließend an den ägyptischen Pharaonen. Er schaffte die Reihe bis Ramses II ., dann wusste er nicht mehr weiter. Also schlug er die Zeit tot, indem er Baustile chronologisch ordnete und versuchte, sich an die Namen der sieben Zwerge zu erinnern. Chef, Hatschi, Brummbär, Happy, Seppl, Pimpel, Schlafmütz, AMEN !
    Endlich war es vorbei, und er konnte aufstehen. Sein linkes Bein war schon vor Stunden eingeschlafen, zumindest fühlte es sich so an. Die Kirchgänger trabten brav, wie eine Herde von Schafen, in einer langen Prozession an der Familie des Toten vorbei, kondolierten und verließen das schlecht beheizte Gotteshaus, um endlich zum Kirchenwirt zu gehen.
    Lorentz sah viele Gesichter, die ihm irgendwie bekannt vorkamen, denen er aber keinen Namen zuordnen konnte. Eine Blondine winkte ihm zu, und es dauerte einige Zeit, bis ihm einfiel, wer sie war. Sie hieß Tanja, und sie hatten gemeinsam ein Jahr lang Blockflötenunterricht gehabt. Sie hatte sich nicht gerade sehr zu ihrem Vorteil entwickelt. Aber was hatte er erwartet? Sie war eine Landauerin – es war also ihr Schicksal, vorzeitig alt und bieder zu werden. Lorentz konnte außerdem Thomas, Georg, Stefan und Luise aus seiner alten Klasse erkennen, zwei Typen aus dem
Schwimmkurs, an deren Namen er sich aber beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte, und er sah Iris, die trauernde Witwe, die sich, vor Selbstmitleid triefend, am fetten, alten Arm der fetten, alten Mutter des fetten, toten Josef festklammerte.
    Sie sah gut aus, das musste er ihr lassen.
    Da er nicht die geringste Lust hatte, mit irgendjemandem zu sprechen, hielt Lorentz sich so gut wie möglich zwischen seinen Eltern und seiner Großmutter. Doch dann tauchte neben ihm plötzlich die alte Frau Vogelmann auf.
    »Satan«, zischte sie und drängte sich an ihm vorbei. Sofort drehten sich einige Köpfe um und starrten ihn an.
    Er hasste es! Er fror, die Leute glotzten ihn an, und er musste aufs Klo. Dringend!
    »Leander, hör bitte auf so herumzuzappeln!«, fauchte seine Mutter und zupfte ein paar

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