Die Zahl
Rührei, gebratenen Tomaten, Bruschetta und Marmeladenbrot gegönnt. Bei der Gelegenheit hatte er auch genauestens seine Küche inspiziert. Capelli hatte die Sauerei, die sie gestern verursacht hatte, brav wieder aufgeräumt. Im Putzen war sie anscheinend besser als im Kochen. Er war zufrieden.
Bevor er mit Bender, der bereits im Vorzimmer an seinem Schreibtisch saß, die alltägliche Morgenbesprechung abhielt, machte er sich als Erstes eine Tasse Tee. Pfefferminz: heiß, stark und süß. Er ließ sich in seinen großen Sessel fallen und sah sich seufzend den Berg Akten an, der sich auf seinem Schreibtisch türmte.
Bender hatte ganze Arbeit geleistet und sämtliche Aussagen der Landauer Dorfbewohner zu Papier gebracht. Morell nahm eine der Aufzeichnungen zur Hand, las ein paar Sätze und seufzte. Der pensionierte Grundschullehrer, Herr Lechleitner, hatte eine Liste mit allen ehemaligen Schülern gemacht, denen er den Mord zutraute. Diese Aufstellung umfasste mehr als fünf Seiten, und Morell schüttelte den Kopf, als er neben einigen seiner ehemaligen Klassenkameraden nicht nur den Namen Leander Lorentz, sondern auch Robert Bender entdeckte. Er legte die Akte wieder zurück auf den Stapel. Für diesen Mist hatte ein Baum sterben müssen. Was für eine Schande! Er nahm einen großen Schluck Tee und verbrannte sich prompt die Zunge.
»Au, verdammt!«, fluchte er und versuchte einen freien Platz auf seinem Tisch zu finden, um die Tasse abzustellen. »Das fängt heute ja schon wieder gut an.«
Zumindest hatte es aufgehört zu schneien. Seit heute Morgen war keine einzige Schneeflocke mehr gefallen.
Morell dachte an gestern Abend. Lorentz konnte unter Umständen sogar ganz umgänglich sein. Wahrscheinlich lag das daran, dass er durch den Tod von Josef und den dummen Brief ein wenig eingeschüchtert war. Die Angst hatte ihn Demut gelehrt – zumindest vorübergehend. Sobald Lorentz sicher sein konnte, dass das Schreiben nur ein schlechter Scherz gewesen war, würde er wieder ein eingebildeter Lackl werden, da war sich Morell sicher. Er war immer noch davon überzeugt, dass irgendwer Lorentz einen bösen Streich gespielt hatte. Es gab genügend Leute im Dorf, denen er mit seiner Arroganz auf den Schlips getreten war. Lorentz war ja der Meinung, dass alle Menschen in Landau Dorftrottel waren – aber da täuschte er sich. Morell wusste, dass viele von ihnen so schlau waren, dass sie sich ohne Probleme so ein Rätsel hätten ausdenken können. Und einer von ihnen war sogar so gerissen, dass er es geschafft hatte, einen grausamen Mord zu verüben, ohne dabei Spuren zu hinterlassen oder von jemandem gesehen zu werden.
›Aber warte nur‹, dachte Morell. ›Dich krieg ich schon! Du bist vielleicht ein schlaues Kerlchen, aber ich bin auch nicht auf den Kopf gefallen.‹
Er hatte Leander und Nina gestern Abend noch gebeten, nach der Auflösung des Begriffs ›Astylos‹ die vierte Zeile und damit gleich das ganze Rätsel zu lösen – und somit zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Capelli hatte etwas zu tun und würde deshalb hoffentlich seine Küche in Ruhe lassen, und Lorentz würde ihm nicht weiter auf den Geist gehen. Er betete, dass die beiden sich zusammenraufen und sich nicht gegenseitig an die Gurgel gehen würden. Ein Mordopfer war mehr als genug.
Morell nahm die Teetasse und schickte sich an, zu seinem Assistenten ins Vorzimmer zu gehen. »Na gut, dann mal los«, sagte er zu sich selbst. »Es gibt viel zu tun.«
Er betrat das Vorzimmer und setzte sich Bender gegenüber. »Und, gibt’s was Neues, Robert?«, fragte er.
Bender sah von seiner PC -Tastatur auf und unterbrach das Tippen. »Ja, Chef!« Er nahm ein Blatt, das auf dem Papierberg neben ihm lag, und verdrehte die Augen. »Sind Sie sicher, dass Sie es hören wollen?«
›Nicht schon wieder Agnes Schubert!‹, schoss es Morell durch den Kopf. Er nickte trotzdem tapfer.
»Also«, Bender machte es spannend. »Frau Vogelmann hat gestern Abend noch angerufen. Sie hat gefragt, ob man jemanden posthum wegen seelischer Grausamkeit auf Schmerzensgeld verklagen kann. Sie hat gemeint, dass Sie schon wissen, worum es geht. Ach ja, und ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie wieder einmal zum Kaffeetrinken vorbeikommen dürfen.« Bender starrte seinen Vorgesetzten böse an. Während er hier im Polizeirevier die ganze Arbeit machte, verbrachte sein Chef seine Zeit beim Kaffeekränzchen mit alten Damen.
Morell stöhnte. Da hatte er ja wieder etwas angezettelt.
Weitere Kostenlose Bücher