Die Zahl
wild auseinanderzupflücken.
»Was machst du da?«, wollte Capelli wissen, aber Morell gab ihr mit einem Wink zu verstehen, dass er nicht gestört werden wollte. Einige Augenblicke später hielt er triumphierend ein buntes Heft in die Höhe.
»Was soll denn das sein?« Lorentz trat einen Schritt näher. »Eine Zeitschrift über Gartenbau?«
»Genau«, sagte Morell stolz. »Ich bin Mitglied im Gartenbauverein und bekomme die darum jeden Monat zugeschickt.«
»Und was hat das mit unserem Rätsel zu tun?«
»Kommt mit, dann zeige ich es euch.« Morell ging zurück ins Wohnzimmer.
»Hier«, sagte er, als sie sich wieder gesetzt hatten. Er schlug die Zeitschrift auf und blätterte, bis er den Artikel über Baumpflege gefunden hatte. Er zeigte auf ein Bild. »Das ist eine Eiche, und hier steht ihr lateinischer Name ›Quercus Robur‹ und hier«, er zeigte auf ein anderes Bild, »›Betulus Pendula‹, die Birke, und gleich daneben ›Sorbus Aucuparia‹, besser bekannt als Eberesche.«
»Nicht schlecht!« So viel Gehirnakrobatik hätte Lorentz dem korpulenten Hausherrn gar nicht zugetraut. »Es sind also Bäume.«
»Ganz genau«, entgegnete Morell. »Und mehrere Bäume ...«
»... sind ein Wald«, vervollständigte Capelli den Satz.
»Könnte stimmen«, sagte Lorentz. »Jemand wird bei lebendigem Leib im Wald begraben.« Er schauderte.
»Ich halte es nach wie vor für einen dummen Scherz«, sagte Morell, der verhindern wollte, dass Lorentz wieder in Panik geriet. »Es ist vielleicht kein sehr lustiger Witz, aber trotzdem sollten wir jetzt nicht hysterisch werden. Schauen wir mal, was uns die letzte Zeile sagen will. Leonidas – Astylos – Koroibos.«
»Klingt griechisch«, sagte Capelli.
»Ist es auch«, entgegnete Lorentz. »Ich habe mich zwar bisher nur auf die ersten drei Zeilen konzentriert, aber ich weiß, dass das hier Namen aus der klassischen Antike sind.«
»Na, dann belehr uns mal, Herr Dozent.« Morell schenkte Wein nach und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. »Aber fasse dich kurz.«
»Gut, ich werde es versuchen. Es gibt eine sehr bekannte Schlacht, die sogenannte ›Schlacht bei den Thermophylen‹. 300 Spartaner standen 200 000 Persern gegenüber. Die Spartaner hatten also ganz offensichtlich keine Chance, aber sie kämpften trotzdem und starben alle, bis auf den letzten Mann. Ihr Anführer hieß Leonidas.«
»Schöne Geschichte«, sagte Morell. »Und wer ist Astylos?«
»Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Erst der letzte Name, ›Koroibos‹, sagt mir wieder etwas. Koroibos von Elis war der erste Olympiasieger, den es gab.«
»Könnte etwas mit Kampf zu tun haben«, meinte Capelli. »Kampf bei den Thermophylen, Kampf um die Medaille ...«
»Möglich«, sagte Morell und gähnte. »Am besten, ihr zwei Hübschen recherchiert den Begriff im Internet, dürfte ja kein Problem sein. Ich werde jetzt ins Bett gehen. Ich muss nämlich, im Gegensatz
zu euch, morgen früh aufstehen und arbeiten. Obwohl’s Samstag ist ...«
»Ich werde auch schlafen gehen«, sagte Capelli, die keine große Lust darauf hatte, den Abend allein mit Lorentz ausklingen zu lassen. »Ich spüre den Wein schon ziemlich.« Sie griff sich an die Wangen. »Und glaubt mir, ihr wollt mich nicht betrunken sehen.«
»In diesem Fall werde ich am besten sofort den Rückzug antreten«, sagte Lorentz. »Ich versuche etwas über Astylos herauszufinden und melde mich, wenn ich mehr weiß.«
Auf dem Weg nach Hause hielt Lorentz das Messer, das er aus der Küche seiner Mutter genommen hatte, so fest umklammert, dass ihm daheim die Finger wehtaten. Und damit nicht genug. Lorentz wollte gerade die Haustüre öffnen, als ein eisiger Windstoß ihm ein paar große Schneeflocken ins Gesicht wehte.
»Nicht schon wieder«, fluchte er leise und schaute in den Himmel, wo sich gerade eine dicke Wolke vor den Mond schob.
»Gunther, der König der Franken, versuchte mit zwölf seiner
Mannen einen Überfall auf den Heimkehrer Walther.«
Waltharius
Chefinspektor Morell machte sich ein bisschen später als sonst auf den Weg ins Büro. Er fluchte. Es waren nur noch sechs Tage bis Weihnachten. Während die halbe Welt mit Festtagsvorbereitungen beschäftigt war und sich auf die Feiertage einstimmte, musste er sogar sein Wochenende für den verdammten Fall opfern. Bisher hatte er nicht einmal Zeit gehabt, einen Baum zu besorgen und den Weihnachtsschmuck aus dem Keller zu holen.
Zum Trost hatte er sich ein extra großes Frühstück mit
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