Die Zahl
hysterisch benommen hatte. Er würde zum Ausgleich Joes Mörder finden, das Rätsel lösen und dem Verfasser des Briefes ordentlich die Meinung geigen.
Capelli öffnete die Tür. »Na, hast du dich heute mit Büchern bewaffnet anstatt mit Muttis Küchenmesser?«, fragte sie, als sie einen Blick in die prallgefüllte Tasche warf, die Lorentz zur Tür hereinbugsierte.
»Ha, ha, sehr witzig, Frau Doktor«, gab dieser zurück. Irgendwie sah die Leichenfledderin heute anders aus. Er konnte aber beim besten Willen nicht sagen, woran das lag. »Zum Glück ist meine Wohnung in Wien irgendwann zu klein für alle meine Bücher geworden, und ich musste einige zu meinen Eltern auf den Dachboden stellen.« Er keuchte, als er den schweren Beutel die Treppe hochzerrte. »Ich glaube, ich habe ein paar gefunden, die uns vielleicht weiterhelfen könnten.«
Lorentz schleppte die Tasche ins Wohnzimmer, wo er sie auspackte und ihren Inhalt auf dem Tisch ausbreitete.
»Hast du schon gefrühstückt?«, wollte Capelli wissen.
»Eine gute Mutter, wie die meine, lässt doch ihren Sohnemann nicht ohne eine ordentliche Grundlage aus dem Haus«, sagte Lorentz.
»Mamasöhnchen«, lästerte Capelli und rieb sich die Augen.
»Was im Auge, Frau Totendoktor?«, gab Lorentz zurück.
»Ja, Kontaktlinsen, du Totengräber!« Capelli bedauerte immer noch, dass sie gestern so unvorteilhaft ausgesehen hatte. Lorentz war zwar ein fürchterlicher Depp, aber er sah verdammt gut aus, und sie wollte sich neben ihm nicht wie eine hässliche, graue Maus fühlen. Sie hatte sich daher ein wenig zurechtgemacht.
›Ah‹, dachte sich Lorentz. Das war es also – sie trug heute keine
Brille. Er schaute sich Capelli genauer an. Eine Miss Austria war sie zwar nicht, aber man konnte sie ansehen, ohne davon blind zu werden. Bei genauerer Betrachtung konnte man sie, wenn man großzügig war, sogar als niedlich bezeichnen.
»Von wegen ›Totengräber‹«, entgegnete er. »Erstens grabe ich meistens Scherben und Gemäuer aus, und zweitens ist an meinen Toten wenigstens nichts mehr dran. Die Knochen, die ich ausgrabe, sind trocken und geruchsneutral.«
Capelli ging nicht darauf ein, sondern rieb sich weiter die Augen, was dazu führte, dass sich Wimperntusche in ihrem Gesicht verschmierte. Lorentz beschloss lächelnd, diesen Anblick noch ein wenig länger zu genießen und es ihr erst zu sagen, wenn er einen guten Konter nötig hatte.
Die beiden setzten sich auf die Couch im Wohnzimmer, und Lorentz begann die Bücher zu sortieren.
»Und? Hast du etwas über diesen Astylos rausgefunden?«, fragte Capelli.
»Das war im Internet kein Problem. Also: Leonidas war ein berühmter griechischer Feldherr im Kampf gegen die Perser, Koroibos aus Elis war der erste Olympiasieger – und bei Astylos muss es sich um Astylos von Kroton handeln. Er war achtfacher Olympiasieger zurzeit der Perserkriege.«
»Dann haben wir also die Perser, die Astylos und Leonidas verbinden, und die Olympischen Spiele, die Astylos und Koroibos gemeinsam haben.«
»Genau«, stimmte ihr Lorentz zu. »Wir brauchen aber etwas, das alle drei verbindet. Ich hab lange gegrübelt, es hat aber nichts gebracht.«
»Hm, da bin ich ehrlich gesagt auch überfragt.«
»Dafür habe ich noch ziemlich viel über die Zahl Zwölf herausgefunden«, sagte Lorentz und hielt Capelli ein Buch unter die Nase. »Vielleicht bringt uns das ja weiter. Also, die Zahl hat schon was.«
»Na dann, erzählen Sie mal, Herr Grabräuber!«
»Aber gerne, Frau Leichenschänderin.« Lorentz lachte heimlich in sich hinein, als er in Capellis schwarz verschmiertes Gesicht schaute. »Erstens ist die Zwölf die einzige Zahl, die einen eigenen Namen bekommen hat – nämlich das Dutzend«, begann er seinen Vortrag. »Was ich außerdem wahnsinnig spannend finde, ist, dass die Zahl Zwölf in so gut wie jeder Kultur und in fast allen bekannten Religionen eine wichtige Rolle spielt. Nenn mir einfach irgendeine Kultur oder eine Religion!«, forderte er Capelli auf.
»Hmmm«, überlegte sie, »dann nehme ich einfach einmal die alten Griechen, mit denen habe ich mich ja gerade schon wegen der vierten Rätselzeile herumgeschlagen.«
»Gute Wahl! Das griechische Göttergeschlecht, das auf dem Olymp wohnte, bestand aus zwölf Göttern. Allen voran Zeus, der Göttervater, und seine Frau Hera. Daneben gab es noch Poseidon, den Gott des Meeres; Hades, den Gott der Unterwelt; die kriegerische Göttin Athene; Apollon, der die Sonne und das Licht
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