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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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Gewissens.
    »Kate«,
drängt er. »Reden Sie mit mir.«
    »Daniel Lapp lebte auf einer Farm in unserer Nähe«, beginne ich. »Manchmal kam er zu uns, um beim Heupressen oder anderen Arbeiten zu helfen. Er war achtzehn.«
    Tomasetti hört zu, beobachtet mich aufmerksam. »Was ist passiert?«
    »In dem Sommer war ich vierzehn Jahre alt.« Ich kann mich kaum noch an das junge Amisch-Mädchen von damals erinnern und frage mich, wie ich jemals so unschuldig sein konnte.
»Mamm
und
Datt
waren auf einer Beerdigung in Coshocton County. Mein Bruder Jacob war zum Heumachen auf dem Feld, und Sarah brachte Quilts in die Stadt. Ich war zu Hause und backte Brot.«
    Ich halte inne, doch Tomasetti gönnt mir keine Ruhepause. »Erzählen Sie weiter.«
    »Daniel kam zur Tür. Er hatte Jacob auf dem Feld geholfen und sich dabei in die Hand geschnitten.« Selbst jetzt, ein ganzes Leben danach, bereitet mir die Erinnerung Bauchschmerzen. »Er hat mich von hinten angefallen. Auf den Boden geworfen. Ich habe geschrien, als ich das Messer sah, doch er hat mich geschlagen, immer wieder.« Ich fühle mich wie benommen, spüre vage, dass ich zu schnell atme, zu flach. »Er hat mich vergewaltigt.« Ich kann Tomasetti nicht ansehen, höre aber, wie er sich über die Bartstoppeln streicht. »Die Amischen möchten gern glauben, dass wir ein anderer Menschenschlag sind«, sage ich, »aber das ist nicht immer der Fall. Wir wussten von den Morden, die in den Monaten davor passiert waren.
Datt
sagte uns zwar, sie beträfen nur die Englischen, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gäbe, aber wir hatten Angst. Wir haben die Türen verriegelt und für die Familien gebetet; meine Mutter brachte ihnen Essen.« Ich zucke die Schultern. »Wir selbst haben keine Zeitung gehabt, aber ich habe im Touristenladen in der Stadt die Geschichten gelesen. Ich wusste, dass die Opfer vergewaltigt worden waren. Ich dachte, Daniel Lapp würde mich umbringen.«
    »Was haben Sie gemacht, Kate?«
    »Ich habe das Gewehr meines Vaters genommen und ihm in die Brust geschossen.«
    Er starrt mich ungerührt an. »Haben Sie die Polizei gerufen?«
    »Wenn wir ein Telefon gehabt hätten, hätte ich es vielleicht gemacht. Aber so nicht. Ich war vollkommen außer mir. Alles war voller Blut.« Ein Keuchen entweicht meinem Mund. »Meine Schwester kam nach Hause. Sie sah den Toten auf dem Boden und rannte schreiend weg. Sie lief über eine Meile, um Jacob zu holen.«
    »Niemand hat die Polizei gerufen?«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Und Ihre Eltern?«
    »Es war schon dunkel, als sie nach Hause kamen. Jacob erklärte
Datt,
was passiert war. Ich glaube, wenn Lapp ein Englischer gewesen wäre, hätte mein Vater die Polizei gerufen. Aber Daniel war einer von uns. Mein Vater sagte, das wäre eine Angelegenheit der Amischen und würde dementsprechend gehandhabt, auf ihre Weise.« Ich atme tief ein, kriege aber nicht genug Luft. »Er und Jacob haben den Toten in Leinensäcke gewickelt und in die Kutsche gelegt. Sie sind zum Getreidespeicher gefahren und haben ihn dort begraben.« Ich sehe Tomasetti an. »Als sie nach Hause kamen, verbot uns mein Vater, je wieder darüber zu sprechen.«
    »Haben sich die Leute nicht gefragt, was mit Lapp passiert ist?«
    »Seine Eltern haben ihn wochenlang gesucht. Doch nach einer Weile begannen die meisten Amischen zu glauben, dass er weggelaufen sei, weil er nicht mehr die
Ordnung
befolgen konnte. Irgendwann haben es dann auch seine Eltern geglaubt.«
    »Das Verbrechen wurde also niemals angezeigt«, sagt er.
    »Nein.«
    »Ziemlich hart für eine Vierzehnjährige, mit so was umzugehen.«
    »Meinen Sie die Vergewaltigung oder dass ich einen Mann getötet habe?«
    »Beides.« Er verzog das Gesicht. »Und dass Sie mit niemandem drüber sprechen konnten.«
    »Meine Reaktion war, über die Stränge zu schlagen. Ich freundete mich mit englischen Jugendlichen an und rauchte und trank. Ein paar Mal bin ich in Schwierigkeiten geraten. Wahrscheinlich war das meine Art und Weise, damit umzugehen. Doch das Morden hatte danach aufgehört. Bis heute Abend habe ich geglaubt, Lapp könnte der Mörder sein.«
    »Als die erste Leiche gefunden wurde, haben Sie also gedacht, er hätte überlebt?«
    Ich starre auf meine Hände, sehe, dass sie zittern, und verschränke sie ineinander. »Ja.«
    Schweigen tritt ein. Mein Verstand versucht, die Auswirkungen meiner Tat zu ermessen. Ich habe keine Ahnung, wie Tomasetti reagieren wird. Doch eines weiß ich sicher, meine

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