Die Zahlen Der Toten
Vitrine, an manchen Stellen restaurationsbedürftig, mit Vasen und Schüsseln darin. Es roch schwach nach Kerzenwachs und Kaffee.
Kate stand am Garderobenschrank und hängte gerade ihren Anorak auf. Darunter trug sie eine verknitterte blaue Polizeiuniform. Sie bückte sich, schnürte die Stiefel mit schmalen, geschickten Fingern auf. Ihre Uniform saß zwar nicht eng, ließ jedoch einen gut gebauten Körper darunter vermuten. Sie war ungefähr einen Meter siebzig groß. Athletisch. Wog vielleicht etwas über fünfzig Kilo und hatte jene Art von breiten Hüften, die sein männliches Interesse weckten.
Er ging zur Garderobe und hängte seinen Mantel auf, doch seine Aufmerksamkeit galt weiterhin Kate. Ihr dunkelbraunes Haar war zerzaust, als hätte sie es den ganzen Tag nicht gekämmt, und das bleiche Gesicht war fleckig vom Weinen.
Sie zog die Stiefel aus, ging durchs Wohnzimmer und verschwand im Flur. John begab sich zur Küche, die gemütlich war mit den hellgrauen Einbauschränken und farblich kontrastierenden Ablageflächen. Auf dem kleinen Esstisch in der Mitte lag ein Stapel Rechnungen und stand eine halb abgebrannte Kerze. Eine ganz normale Küche, wenn man davon absah, dass ihre Besitzerin gerade einen Mord gestanden hatte …
Kate tauchte wenige Minuten später wieder auf. Sie hatte sich umgezogen, trug jetzt Jeans und ein weites Sweatshirt mit der Aufschrift
Columbus Police Department.
Ihr Gesicht war gewaschen und die Haare waren gekämmt.
»Schön hier«, sagte er.
Sie ging, ohne zu antworten, an ihm vorbei zum Kühlschrank, stellte sich auf die Zehenspitzen und holte eine Flasche aus dem Hängeschrank darüber. »Die Schränke sind erneuerungsbedürftig.«
»Nur wenn Sie auf Country-Look stehen.« Er runzelte die Stirn beim Anblick der Flasche Wodka in ihrer Hand.
»Ich hasse Country-Look.« Sie sah ihn an. »Und sparen Sie sich, mich darauf aufmerksam zu machen, dass Alkohol nicht hilft.«
»Das wäre sowieso geheuchelt.«
»Wenn ich Ihnen alles über die Knochen erzählt habe, werden Sie ihn brauchen.«
Sie stellte zwei Gläser und die Flasche auf den Tisch, ging zur Hintertür und machte sie einen Spaltbreit auf. Eine verwahrloste, getigerte Katze schoss herein, zischte John an und verschwand im Wohnzimmer.
»Sie mag mich«, meinte John.
Der Laut aus Kates Mund war eine Mischung aus Lachen und Schluchzen. Sie zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und sank darauf. »Was Sie jetzt hören, wird Ihnen nicht gefallen, John.«
»Das war mir schon klar, als ich den Schädel gesehen habe.« Er nahm auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz.
Sie schraubte die Wodkaflasche auf und schenkte ihnen ein. Einen Moment lang starrten sie beide wortlos auf die Gläser, dann leerte sie ihres auf ex und schenkte sich nach. Da wusste John, dass sie weitaus mehr Polizistin war als amisch.
Schließlich stellte er die Frage, die ihm seit dem Anblick des Schädels keine Ruhe ließ. »Hat die Leiche in der Grube irgendetwas mit dem Serienmörder von Painters Mill zu tun?«
»Davon bin ich die ganze Zeit ausgegangen.« Sie sah auf ihr Glas und zuckte die Schultern. »Bis heute Abend.«
»Am besten Sie erzählen mir alles von Anfang an.«
· · ·
Ich habe das Gefühl, mein ganzes Leben ist auf diesen Moment zugelaufen. Und doch bin ich nicht darauf vorbereitet. Aber wie, in Gottes Namen, soll man sich auf die eigene Selbstzerstörung vorbereiten? Im schlimmsten Fall geht Tomasetti schnurstracks zu den Anzugträgern vom BCI , die sich dann sofort daranmachen, mein Leben zu zerstören. Wenn das passiert, werde ich Jacob und Sarah schützen, das habe ich mir fest vorgenommen. Nicht weil sie weniger schuldig sind als ich, sondern weil sie Kinder haben; ich will nicht, dass meine Neffen und Sarahs ungeborenes Kind da hineingezogen werden. Und auch die amische Gemeinde muss herausgehalten werden, das haben die Menschen verdient.
Ich sehe Tomasetti an, seine kalten Augen und den harten Mund. Er mag sich auf einem schmalen Grat bewegen, aber ich habe das schlimme Gefühl, dass Ausreden mir heute Abend nicht weiterhelfen. »Egal, was ich Ihnen erzähle, ich will den Fall zu Ende führen. Das müssen Sie mir versprechen.«
»Sie wissen, dass ich das nicht kann.«
Ich nehme einen Schluck, zwinge ihn hinunter. Alkohol, der kurzlebige Helfer in der Not. Die Worte, die ich aussprechen muss, stolpern in meinem Kopf herum, ein Durcheinander aus Erinnerungen und Geheimnissen und der großen Last meines
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