Die Zahlen Der Toten
in meinem Kopf bedeutet, dass ich kurz davor bin. Ich verliere das Gefühl für Zeit – sind es Sekunden oder Minuten? –, bis ich merke, dass Tomasetti neben mir kniet.
Als seine Hand meine Schulter berührt, zucke ich zusammen. Ich bin verlegen und beschämt, aber auch nicht sicher, ob ich mich noch mehr übergeben muss, und bleibe liegen. Ignoriere ihn. Ich blicke auf meine Handschuhe im Dreck und würde am liebsten weinen.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt er nach einer Weile.
»Was glauben Sie denn?«
»Ich glaube, Sie haben mir was zu erklären.«
Ich muss wieder würgen und spucke aus.
Er wartet einen Moment, bevor er spricht. »Die Knochen da unten. Sie wissen, von wem sie sind?«
Ich schließe die Augen, drücke sie fest zusammen. »Ja.«
»Wer?«
»Daniel Lapp.«
»Wer ist Daniel Lapp?«
»Ein Amisch-Mann.«
»Seit wann ist er tot?«
»Seit sechzehn Jahren.«
»Wie ist er gestorben?«
»Gewehrschuss.«
»Wissen Sie, wer ihn umgebracht hat?«
»Ja.«
Er hält inne. »Wer?«
»Ich«, stoße ich aus und fange hemmungslos an zu weinen.
26. Kapitel
In all den Jahren als Polizist hatte John schon viele bizarre Situationen erlebt. An einigen war er sogar aktiv beteiligt gewesen, woran er sich nur ungern erinnerte. Doch das hier schoss den Vogel ab. Ein Mordgeständnis hatte er wirklich nicht erwartet, als er Kate Burkholder heute Abend hierher gefolgt war.
Er hatte eine gute Menschenkenntnis, nur in Bezug auf Frauen war seine Fehlerquote leicht erhöht, was wohl den meisten Männern so ging. Er dachte, nichts könnte ihn mehr schockieren, doch jetzt war er schockiert. Schlimmer noch, er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
Er schob seine Hand unter Kates Schulter und half ihr aufzustehen. »Kommen Sie. Packen wir’s an.«
Sie schien federleicht, und zum ersten Mal wurde ihm klar, wie zierlich sie war, dass sie ihm nur wegen der dicken Winterjacke und weil er sie für eine starke Frau hielt, so gewaltig erschien. Und sie war bestimmt nicht jemand, der schnell weinte. Bisher hatte sie den Stress total professionell gehandhabt, war tough und konzentriert, obwohl es der Fall wirklich in sich hatte. Doch jetzt war der Damm gebrochen. Zwar jammerte sie nicht, aber das Elend, das er in ihrem Gesicht sah, war so abgrundtief, dass es ihn nicht unberührt ließ.
Er umfasste ihre Schultern und zog sie zu sich herum. »Kate, was ist los?«
»Johnston hat recht«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich … hab den Fall ver… vermasselt. Wegen … dem hier.«
Er wünschte, er wäre ihr niemals gefolgt. So was brauchte er nicht, wollte nichts damit zu tun haben. In gewisser Weise war ihm der Fund sogar egal. Er hatte genug eigene Probleme, auch ohne die Leiche hier.
»Reißen Sie sich zusammen«, fuhr er sie an.
Sie hob den Kopf, und ihre Blicke begegneten sich.
»Wir müssen reden.«
»Ich weiß.« Sie rieb sich verzweifelt die Wangen, fragte sich, wie schnell Tränen wohl auf der Haut gefroren.
»Können wir irgendwo hingehen, wo es warm ist?«, fragte er.
»Die Bar. Mein Haus.« Sie zuckte die Schultern. »Oder Sie können den Prozess einfach beschleunigen und mich gleich ins Gefängnis bringen.«
»Ihr Haus.« Er blickte um sich, wünschte, überall, nur nicht hier zu sein. »Ich habe das Gefühl, bei dem Gespräch sollten wir besser ungestört sein.«
»Ich fürchte, das stimmt.«
Als er ihr den Schlüssel zurückgab, dachte er, dass sie vielleicht abhauen würde. »Sie machen doch keine Dummheiten, oder?«
Sie bedachte ihn mit einem weisen Blick. »Ich habe mein Quantum an Dummheiten schon erfüllt«, sagte sie und ging zu ihrem Wagen.
· · ·
Sie wohnte in einem bescheidenen Farmhaus am Rande der Stadt. Kein helles Licht über dem Eingang hieß sie willkommen, und die Auffahrt musste noch freigeschaufelt werden. Er parkte am Straßenrand. Kate stellte ihren Wagen in die Einfahrt und ging zur Haustür, ohne auf ihn zu warten.
John wusste, dass seine Anwesenheit hier für Gerede sorgen könnte, doch ihm war kein besserer Ort eingefallen. Außerdem arbeiteten die hiesige Polizeichefin und der ermittelnde Field Agent gemeinsam an einem Mordfall und hatten demzufolge einiges zu bereden.
Er stieg aus und ging über den Hof. Sie hatte die Tür offen gelassen, also trat er ein und machte sie hinter sich zu. Das Wohnzimmer war mit einem ausgesuchten Möbelmix ausgestattet: ein modernes braunes Sofa, zu dem ein cremefarbener Sessel einen schönen Kontrast bildete. Eine antike
Weitere Kostenlose Bücher