Die Zahlen Der Toten
haben es unheimlich eilig, das Loch wieder abzudecken.«
»Ich will nur schnell nach Hause.«
Er hält inne. »Kate, was zum Teufel soll das hier?«
Ich sehe ihn nicht an. Kann es nicht. Ich stehe zu nahe am Abgrund. Wenn ich erst einmal runtergefallen bin, kann ich mich vielleicht nicht wieder selbst rausziehen. »Hören Sie, es ist schon die zweite Beschwerde, dass hier Müll abgeladen wird«, fahre ich ihn an. »Ich wollte noch nicht nach Hause gehen, also bin ich hergefahren.«
»Und deshalb zittern Sie am ganzen Leib?«
Ich befestige das Seil, richte mich auf und sehe ihm in die Augen. »Falls es Ihnen entgangen ist, es ist kalt.«
»Sie schwitzen, verdammt nochmal. Sie sind vollkommen verdreckt. Sehen Sie sich doch an. Und jetzt sagen Sie endlich, was hier vor sich geht.«
»Ich hab keine Ahnung, was Sie glauben zu wissen, aber ich habe etwas dagegen, dass Sie mir folgen und mich ausspionieren. Was immer Sie auch machen, hören Sie auf damit. Kapiert?«
»Sie lügen mich an, und ich will wissen warum.«
Ich lache. »Sie sollten mit jemandem über Ihre Paranoia reden, Tomasetti.«
»Sie sind nicht in die Grube gestiegen, um einer Beschwerde nachzugehen.«
»Und das wissen Sie genau, ja?«
Plötzlich kommt er auf mich zu und leuchtet mir wieder mit der Taschenlampe ins Gesicht. »Sie wollen wissen, was ich weiß, Chief? Ich weiß, dass jemand in dieser Stadt glaubt, dass Sie den Mörder kennen. Ich weiß, dass Sie etwas verheimlichen.« Er zeigt mit dem Finger auf die Grube. »Und ich weiß, dass Sie nicht wegen irgendeinem anonymen Hinweis in das Loch gestiegen sind.« Er geht um die Grube herum, leuchtet mit der Lampe hinein. »Wenn ich da runtergehe, was finde ich dann?«
»Was wollen Sie von mir? Hat Detrick Sie beauftragt, mir zu folgen? Oder war es der Stadtrat? Sind Sie deren neuer Schoßhund?«
Ein Mundwinkel geht hoch, doch ich kann nicht sagen, ob lächelnd oder höhnisch. »Sie sollten es besser wissen.«
»Tatsächlich?« Ich gehe zum Explorer, habe es fast geschafft. Jetzt muss ich nur noch das Gitter auf die Grube manövrieren und verschwinden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich die Mühe macht, es noch einmal wegzuziehen.
Ich schiebe mich hinters Lenkrad und drehe den Zündschlüssel. Der Motor heult auf, ich greife nach dem Schalthebel und will gerade den Gang einlegen, als die Tür auffliegt, Tomasetti sich über mich beugt, den Motor abstellt und den Schlüssel an sich nimmt.
»Was zum Teufel soll das?« Ich springe aus dem Wagen, will ihm den Schlüssel entreißen.
Er lässt ihn in seiner Hosentasche verschwinden. »Sagen wir mal so, ich folge einer Intuition.«
»Das ist lächerlich. Geben Sie mir den Schlüssel. Sofort.«
Er löst das Seil vom Gitter und wirft das Ende in die Grube.
Panik überkommt mich. Er darf die Knochen nicht finden. »Sie überschreiten Ihre Kompetenzen.«
»Das wird mir nicht zum ersten Mal vorgeworfen.«
»Ich schwöre bei Gott, das kostet Sie Ihren Job.«
Er nimmt das Seil, stemmt die Beine an den Rand und lässt sich wie ein Bergsteiger hinunter ins Loch.
»Tomasetti, hören Sie auf damit. Ich will nach Hause.«
Keine Antwort.
»Verdammt! Da unten ist nichts!« Ich blicke wild um mich, überlege eine Sekunde lang wirklich, ob ich einfach das Seil vom Auto abmachen und ihn da unten verrotten lassen soll. Aber das geht natürlich nicht. Ich muss mich mit dem, was ich getan habe, auseinandersetzen, mein lange gehütetes Geheimnis preisgeben.
Plötzlich habe ich mein zukünftiges Leben vor Augen: Meine Polizeikarriere ist futsch, die Erinnerungen an meine Eltern, ihr Ruf, werden durch den Dreck gezogen und die ganze amische Gemeinde gleich mit. Mein Bruder, meine Schwester und meine Neffen werden leiden. Vielleicht kommt mein Fall vor die Grand Jury, oder, schlimmer noch, ich werde angeklagt und lande wegen Mordes im Gefängnis …
Ich laufe zur Grube und sehe, wie Tomasetti mit dem Fuß ein Stück Holz wegschiebt. Der Schädel kommt zum Vorschein. Mir wird schwindlig, ich fühle mich krank. Wie konnte das nur passieren?
»Was zum Teufel …?«
Ich wende mich ab, die Hand auf den Bauch gedrückt. Dafür gibt es keine Ausrede mehr. Es ist vorbei. Das Geheimnis ist gelüftet. Übelkeit steigt in mir auf, ich schaffe noch drei Meter, dann übergebe ich mich. Der dumpfe Aufprall meiner Knie auf dem Boden überrascht mich. Ich bin zwar schon öfter bewusstlos geschlagen worden, aber noch nie in Ohnmacht gefallen. Doch die Blutleere
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