Die Zahlen Der Toten
hatten wir über zehn Grad, bevor eine arktische Kaltfront Einzug hielt. »Dann ist sie also schon eine ganze Weile hier.«
»Ich würde sagen, dass diese Leiche die dritte Verwesungsstufe erreicht hat. Es gibt eine starke Gasaufblähung. Die anfänglich grünliche Färbung geht bereits in Schwarz über. Dieser Abschnitt dauert normalerweise vier bis zehn Tage.« Er zuckt die Schultern. »Aber bei den derzeitigen Temperaturen muss der zeitliche Rahmen wesentlich weiter gesteckt werden. Zudem gibt es in dieser Jahreszeit nur wenige oder keine Aktivitäten von Insekten, was ebenfalls eine große Rolle beim Verwesungsprozess spielt.«
»Was halten Sie für am wahrscheinlichsten?«
»Zwei Wochen, vielleicht drei.«
Zwei Frauen in drei Wochen, denke ich nur. Dass ein Mörder aus dem Nichts kommt und in so einem Tempo tötet, ist selten. Wodurch wurde die Eskalation ausgelöst?
Ich trete näher an die Tote heran. Ihre Haare sind blutverklebt. Irgendwann hatte sich ihr Darm entleert, und Kot war ihren Rücken hinuntergelaufen und auf den Boden gefallen. Mein Herz hämmert und mein Kopf dröhnt. »War sie noch am Leben, als er sie aufgehängt hat?«
»Dem vielen Blut auf dem Boden nach zu urteilen, hat ihr Herz noch geschlagen.«
»Was ist mit den Wunden?«, frage ich.
Der Doktor sieht Glock an. »Haben Sie Fotos von dem Blut auf dem Boden gemacht?«
Glock nickt. »Ja.«
Coblentz tritt in den mit Blut kontaminierten Bereich, hinterlässt einen Schuhabdruck. Obwohl er zwei Paar Latexhandschuhe trägt, zucke ich zusammen, als er die Tote am Kiefer anfasst, um die Wunde zu betrachten. »Ich werde mehr wissen, wenn ich sie im Leichenschauhaus habe, aber auf den ersten Blick sieht die Wunde hier der des ersten Opfers sehr ähnlich. Sehen Sie das? Sie ist kurz und tief, mit glatten Rändern. Sieht nicht so aus, als hätte die Messerschneide Zähne gehabt.«
Ich versuche, mir die Tote mit dem unbeteiligten Blick einer Polizistin anzusehen. Das bin ich der jungen Frau schuldig. Dieser Stadt. Und mir selbst. Aber meine Gefühle und der Ekel, den ich verspüre, sind wie ein wildes Tier, das an der Käfigtür rüttelt.
In düsterem Schweigen suchen wir den Tatort eine Stunde lang nach Spuren ab. Ich hülle gerade die Hände des Opfers in Plastiktüten, als ich ein Geräusch an der Tür wahrnehme. Ich blicke auf und sehe Sheriff Nathan Detrick im Zimmer stehen. Er sieht aus wie vom Blitz getroffen.
»Allmächtiger Gott«, sagt er mit Blick auf die Leiche.
In meinen zwei Jahren als Chief of Police bin ich ihm erst einmal kurz begegnet.
Er ist ein kräftiger Mann von ungefähr fünfzig Jahren, stemmt Gewichte und joggt wahrscheinlich auch. Aber selbst sein Körper, der früher sicher den Neid aller Männer über vierzig geweckt hat, die sich in Bodybuilding-Läden Muskeln angezüchtet haben, zeigt Spuren des Alters. Er hat eine Glatze, was ihm gut steht. Ich ertappe mich jedoch bei der Frage, ob er den Schädel rasiert, um die kahlen Stellen zu vertuschen, oder ob er bereits von Natur aus glatzköpfig ist.
Er lässt mir keine Zeit, darüber nachzugrübeln. »Da haben Sie ja einen Riesenschlamassel am Hals.«
Ich ziehe die Latexhandschuhe aus, als er mit ausgestreckter Hand auf mich zukommt. Obwohl ich gerade eine grausige Arbeit verrichte, schüttelt er, ohne zu zögern, meine Hand. »Nathan Detrick zu Ihren Diensten.«
Er hat einen festen, aber nicht schmerzhaften Händedruck, was ich ihm hoch anrechne. Seine Augen sind stahlblau, sein Blick ist offen und direkt. Ich empfinde seine Gegenwart als beruhigend, was mich überrascht, und zum ersten Mal wird mir klar, dass ich die Last dieses Falles nicht alleine tragen will.
»Danke fürs Kommen.« Er scheint ein intelligenter Mann zu sein und ich sehe an seinen Augen, dass er mich abschätzt und sich ein Urteil bildet.
»Wir sind uns schon mal begegnet.« Er hört auf, meine Hand zu schütteln, lässt sie aber nicht los.
»Die Benefizveranstaltung im Fairlawn-Altersheim letzte Weihnachten«, erwidere ich.
»Natürlich. Jetzt fällt es mir wieder ein. Das Fleisch war zäh wie Leder.«
»Und der Weihnachtsmann betrunken.«
Er antwortet mit einem herzhaften Lachen. »Aber wir haben Geld für einen guten Zweck gesammelt, oder?«
Ich nicke, beschränke so unseren Smalltalk angesichts der Umstände auf ein Minimum.
Er lässt meine Hand los und wendet sich der Toten zu. »Ich habe Ihre Pressemitteilung gelesen. Ich kann es nicht fassen, der Schlächter ist
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