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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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wenigen Minuten aus der Hand fressen werden. Das sollte mir egal sein, ist es aber nicht. In der Öffentlichkeit zählt nur die Wahrnehmung, selbst wenn sie manipuliert wird.
    Ich könnte mir in den Hintern beißen, dass ich mich nicht besser verkauft habe, nicht geduldiger und direkter gewesen bin. Ich hätte stärker zeigen müssen, dass ich die Führung in der Hand habe. Doch ich bin Polizistin, keine öffentliche Rednerin. Ich schnappe mir meinen Anorak vom Stuhl und gehe durch die Bühnentür hinaus, will schnell zurück aufs Revier, wo ich mir meiner Fähigkeiten wenigstens sicher bin.
    Als ich den von Spinden gesäumten Flur entlanggehe, kann ich Detricks Stimme noch immer hören. Selbst aus dieser Entfernung vermittelt sie ein beneidenswertes Selbstbewusstsein. Und es wird Detrick sein, nicht ich, der den Bürgern von Painters Mill heute Abend ein Gefühl von Sicherheit gibt.
    »Chief!«
    Ich drehe mich um und sehe Glock auf mich zueilen. Neben ihm marschiert John Tomasetti, einen grimmigen Ausdruck im Gesicht. Ihnen folgt ein amischer Mann mit schlecht geschnittenen Haaren, blauen Augen und rotem Vollbart; sein schwarzes Wolljackett kommt mir für diese Jahreszeit viel zu dünn vor. Die plumpe Frau hinter den drei Männern trägt eine schwarze Jacke über einem wollenen Trägerkleid und knöchelhohe Lederstiefel.
    »Das sind Ezra und Bonnie Augspurger«, beginnt Glock.
    Es ist fünfzehn Jahre her, dass ich die Augspurgers gesehen oder gesprochen habe. Aber ich erkenne sie wieder, denn als Kind habe ich mit meinen Eltern viele Sonntage beim Gottesdienst in ihrem Haus verbracht. Ich erinnere mich, mit ihrer Tochter Ellen gespielt zu haben, und mit einem Bruder namens Urie, der sich einen Spaß daraus gemacht hatte, mir die
Kapp
vom Kopf zu ziehen. Aber er hatte mich nicht verpetzt, als ich ihn einmal in einen Haufen Pferdeäpfel gestoßen habe. Das jüngste Kind der Augspurgers, Mark, leidet unter dem Ellis-van-Creveld-Syndrom, einer Form des Minderwuchses, die bei Amischen gehäuft auftritt. Als Kind wusste ich natürlich nur, dass Mark klein war, aber Ellen hatte mir irgendwann verraten, dass er einen Zeh zu viel und ein Loch im Herz hat.
    Als Ezra und Bonnie jetzt vor mir stehen, frage ich mich, ob der kleine Mark noch lebt.
    Ich reiche zuerst Ezra die Hand. Als sich unsere Blicke treffen, sehe ich Angst in seinen Augen – die gleiche Angst, die an die Tür meiner Psyche hämmert. Ich weiß, warum sie hier sind, wie diese Begegnung enden wird.
    »Ellen ist verschwunden«, sagt Ezra mit zittriger Stimme.
    »Wir haben das mit dem englischen Mädchen gehört und machen uns Sorgen«, fügt Bonnie hinzu. »Bitte hilf uns, sie zu finden.«
    Ich denke an die teilweise verfaulte Tote auf der Bahre in der Leichenhalle des Krankenhauses – die unlackierten Finger- und Fußnägel –, und eine so große Traurigkeit überkommt mich, dass ich einen Moment lang nicht sprechen kann. Ich wünsche mir so sehr, dass es nicht Ellen ist, weiß aber, dass mein Wunsch nicht in Erfüllung gehen wird. Zudem fühle ich mich schuldig, dass ich sie nicht erkannt habe, und obwohl ich sie fünfzehn Jahre lang nicht gesehen habe, ist das keine Entschuldigung.
    Noch bevor es mir bewusst wird, spreche ich auf Pennsylvaniadeutsch. »Wie lange vermisst ihr sie schon?«
    Ezra blickt zu Boden, doch die Scham in seinem Gesicht ist mir nicht entgangen.
    »Zweieinhalb Wochen.« Bonnie verknäult nervös die Finger.
    Ich sehe Ezra scharf an. »Warum bist du nicht früher gekommen?«
    »Es ist eine amische Angelegenheit, die wir unter uns regeln mussten.«
    Das Argument kommt mir so furchtbar bekannt vor, dass sich mir die Nackenhaare sträuben.
    »Wir dachten, sie wäre weggelaufen«, sagt Ezra. »In den letzten Monaten war Ellen … schwierig geworden … aufsässig.«
    »Sie hat gesagt, sie wollte mit dem Bus nach Columbus fahren und ihre Cousine Ruth besuchen«, erklärt Bonnie. »Als sie verschwand, dachten wir, sie hätte es wirklich getan. Gestern Abend haben wir aber von Ruth gehört, dass sie nie in Columbus angekommen ist.«
    Am liebsten würde ich die beiden mit aufs Polizeirevier nehmen, wo wir ungestört reden können, denn hier gibt es zu viele Menschen, zu viele Kameras. Da entdecke ich in der Nähe eine offene Klassenraumtür. »Wir gehen wo hin, wo es ruhiger ist.«
    Ich lasse die Augspurgers kurz stehen und wende mich Glock und Tomasetti zu. »Finden Sie heraus, wo es hier ein Faxgerät gibt«, sage ich ruhig. »Bitten Sie

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