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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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Führungsrolle teilen. Ich kenne David Troyers und weiß, dass er einer der wenigen Amischen ist, die ein Telefon besitzen.
    Ezra hebt den Kopf, versucht, sich zusammenzureißen. »Wir wollen Ellen nach Hause bringen.«
    »Natürlich«, erwidere ich auf Pennsylvaniadeutsch.
    »Wo ist sie?«
    »Im Krankenhaus in Millersburg.«
    »Ich will sie nach Hause bringen.«
Ein Schluchzen entfährt ihm, als er die Schultern aufrichten will, die vom Gewicht unsäglichen Leids nach unten gedrückt werden.
    »Ich würde euch gern zum Krankenhaus fahren«, sage ich.
    »Nein.«
    »Ezra, Millersburg ist fast zehn Meilen weit weg.«
    »Nein!« Er schüttelt den Kopf. »Bonnie und ich nehmen die Kutsche.«
    Sein Kummer ist so groß, dass ihm wahrscheinlich nicht klar ist, wie viele Stunden er insgesamt unterwegs sein wird. Hilfesuchend wende ich mich Bonnie zu, doch sie starrt mich nur an. Ungeweinte Tränen glitzern in ihren Augen, und sie presst ihre Hand auf den Mund, als wolle sie die Schreie zurückhalten, die in ihrem Inneren wüten.
    »Draußen sind es minus sieben Grad«, sage ich. »Es sind besondere Umstände, Ezra. Bitte, lasst mich euch fahren.«
    Bonnie steht ruckartig auf. »Wir kommen mit dir.«
    »Nein!« Der Amisch-Mann knallt mit der Faust aufs Pult. »Wir nehmen die Kutsche!«
    · · ·
    Ich hatte schon viele schlechte Tage im Leben. Doch meistens habe ich akzeptiert, dass zu den guten Tagen auch schlechte gehören, und geglaubt, dass sie sich am Ende die Waage halten. Ich werde eine Menge gute Tage brauchen, um den heutigen auszugleichen.
    Da ich Ezra nicht überreden konnte, sie zum Krankenhaus zu fahren, war mir nichts anderes übrig geblieben, als ihnen im Explorer zu folgen. Insgesamt hatten die Fahrt und die Identifizierung von Ellen über drei Stunden gedauert. Jetzt ist es nach Mitternacht, ich bin müde und mir ist so kalt, dass ich mir nicht vorstellen kann, je wieder warm zu werden. Ich sollte nach Hause gehen und versuchen zu schlafen, doch mein Kopf läuft auf Hochtouren und ich habe keine Lust, wertvolle Stunden zu verlieren, in denen ich mich doch nur unruhig im Bett wälze.
    »Die Angehörigen zu benachrichtigen ist immer das Schlimmste.«
    Stirnrunzelnd blicke ich Tomasetti auf dem Beifahrersitz an.
    Er bemerkt es nicht. »Wenn man ein brutales Bandenmitglied zerfetzt auf der Bahre liegen sieht, glaubt man, die Welt ist nun besser geworden. Aber so etwas …«
    »Das ist zynisch«, erwidere ich.
    »Yeah, aber auch die Wahrheit.«
    »Ich teile Ihre Meinung nicht.«
    »Sie sind bloß noch nicht lange genug bei der Polizei.«
    Tomasetti ist schon den ganzen Abend lang mein Schatten. Seine Anwesenheit ärgert mich mehr, als es sollte, obwohl er bis jetzt ruhig war. Und die Ironie, dass ausgerechnet ich ihn auf den neuesten Stand des Falls bringe, entgeht mir natürlich nicht.
    »Wollen Sie ihnen bis nach Hause hinterherfahren?«, fragt er.
    »Die Straßen sind schlecht. Ich will nicht, dass ihnen in dieser Nacht noch mehr passiert.«
    Er blickt wieder aus dem Fenster, auf die abgeernteten Kornfelder. Die Nacht ist klar und still, die Temperatur auf ungefähr minus fünfzehn Grad gefallen. Am Himmel spielen Sterne Verstecken hinter vorbeiziehenden hohen Wolken.
    Auf dem Weg zum Krankenhaus hatte ich David Troyers, den Bischof der Augspurgers, angerufen. Was mir wirklich bei den Amischen gefällt, ist die Nachbarschaftshilfe, die Familien erfahren, denen das Schicksal übel mitgespielt hat. Es tröstet mich zu wissen, dass Ezra und Bonnie nach Hause kommen und dort eine Familie vorfinden werden, die morgen alle Haushalts- und Farmarbeiten übernimmt, die Tiere füttert, Essen kocht und bei den Vorbereitungen für die Beerdigung hilft.
    Ezras Pferd hält den ganzen Weg bis zur Augspurger-Farm einen gleichmäßigen Trab. Als die Kutsche in ihre Straße einbiegt, blinke ich zum Abschied ein paar Mal mit meinen Scheinwerfern und fahre zurück in die Stadt.
    »Und wohin geht’s jetzt, Chief?«
    Ich blicke Tomasetti an, dessen dunkle Augen mich eindringlich fixieren. Einem Blick standzuhalten ist nicht leicht, doch wenn man es dann geschafft hat, ist das Losreißen sogar noch schwerer. Ich erkenne Verletzung in diesen Augen und frage mich kurz, wo sie wohl herrührt. Und auch, ob in meinen das Gleiche zu sehen ist. Polizist zu sein, ohne Schaden zu nehmen, ist schwer.
    Ich bin ihm noch nie zuvor begegnet, doch sein Gesicht hat etwas Vertrautes. »Ich kann Sie ins Motel oder zum Bahnhof bringen«, sage ich.

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