Die Zarentochter
Betschwester!«
»Nikolaus …« Alexandra nickte mahnend in Richtung des Kutschbockes. Heutzutage wusste man nie, wer wo seine Ohren hatte. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine harmlose private Bemerkung des Zaren später aufgebauscht und verfälscht wiedergegeben wurde.
»Erinnere dich nur an das Diner letzte Woche bei Orlow. Olly hat kaum ein Wort herausgebracht, ich hätte sie schütteln mögen ob ihrer Verstocktheit! Und wie mürrisch sie immer dreinschaut – das ist doch nicht normal. Sie könnte sich ruhig ein Beispiel an Mary nehmen, die weiß mit ihrem Charme jede Tischrunde zu verzaubern.« Beim Namen seiner ältesten Tochter leuchtete das Gesicht des Zaren auf.
Alexandra fuhr fort. »Je zauberhafter Mary wird, desto mehr steht Olly in ihrem Schatten. Manchmal frage ich mich, ob es nicht das Beste wäre, sie eine Zeitlang wegzuschicken. Nach Berlin zu meinem Bruder zum Beispiel, dort stünde dann endlich einmal sie im Mittelpunkt.«
»Die Tochter des russischen Zaren und eine preußische Erziehung? Nein, meine Liebe, da wird uns wohl etwas anderes einfallen müssen.« Er warf ihr einen finsteren Blick zu.
Hätte sie bloß nicht von Olly angefangen, ärgerte sich Alexandra, sie wusste doch, wie sich Nikolaus in etwas hineinsteigern konnte. Bestimmt würde es den ganzen Abend über kein anderes Thema mehr für ihn geben. Und sie hatte sich so auf den bevorstehenden Theaterabend gefreut …
»Unsere kleine Olly ist eben ein stilles Mädchen, damit müssen wir uns wohl abfinden«, sagte sie leichthin.
»Wennich mich mit allem abfinden würde, wäre es elend um unser Russland bestellt. Nein, mit Olly muss dringend etwas geschehen, sonst kann ich meine Heiratspläne für sie in den Wind schreiben. Glaube mir, einen solchen Sauertopf will niemand haben, Männer schätzen das übertrieben Ernsthafte nicht. Auch eine Kaiserin sollte immer mit einer gewissen Leichtigkeit durchs Leben gehen, so wie du, meine Liebe.«
»Ach, Nikolaus«, lächelte Alexandra glücklich.
Dessen Miene verfinsterte sich allerdings noch weiter. »Charlotte Dunker war nicht gut für Olly. Madame Doudine ist es leider auch nicht. Als ich sie gestern zum Rapport zu mir rief, wurde sie vor lauter Aufregung ohnmächtig.«
Alexandra verzichtete darauf, ihn daran zu erinnern, dass es seine Idee gewesen war, Madame Doudine als Gouvernante für Olly zu engagieren. »Oje, schon wieder? Im Waisenhaus war ihr umsichtiges Regiment sehr geschätzt, doch scheinbar lassen sich ihre Fähigkeiten nicht auf die neue Aufgabe übertragen.«
»Sie muss gehen«, sagte der Zar.
Alexandra wollte gerade fragen, wer sich dann um Olly kümmern sollte, als Nikolaus sagte: »Erinnerst du dich zufällig an eine Dame namens Anna Alexejewna Okulow? Ihr Vater war eine Zeitlang der Hauptkommandeur der Hafenverwaltung.«
Die Zarin runzelte die Stirn, weil vor ihrem inneren Auge das Bild einer unscheinbaren Frau mit einer langen schmalen Narbe auf der Stirn erschien. Was hatte ihr Mann nun schon wieder vor? Warum überließ er die Auswahl des Personals für die Kinder nicht einfach der Obersthofmeisterin? Oder fragte Shukowski um Rat?
»War sie nicht eine Schülerin des Katharineninstitutes? Und war sie nicht auch einer der Lieblinge deiner Mutter? Ich habe sie nur ein oder zwei Mal getroffen, aber mir erschien sie sympathisch«, sagte sie vorsichtig.
»Ihrer Familie ist in den letzten Jahren einiges an Unglück wi derfahren, angefangen mit dem Tod des Vaters, der seine Familie nicht sonderlich gut abgesichert zurückgelassen hat. Die Mutter ist krank – die Lunge, glaube ich –, es ist daher wohl allein Anna, die sichum das Landgut und um die Erziehung ihrer jüngeren Geschwister kümmert. Eine sehr patente Frau.«
Alexandra Feodorownas Mundwinkel sanken nach unten. Es gefiel ihr nicht, wenn ihr Mann derart von einem seiner Günstlinge schwärmte, erst recht nicht, wenn es sich um eine weibliche Person handelte. Wahrscheinlich war an dieser Frau gar nichts Besonderes. Was manche Leute anging, war Nikolaus’ Geschmack ihrer Ansicht nach ein wenig sonderbar.
»Ich ahne, worauf du hinauswillst, mein Lieber. Aber mir scheint, die Dame hat mit ihren derzeitigen Verpflichtungen genug zu tun. Wie kommst du darauf, dass ausgerechnet sie diejenige sein könnte, die Olly Lebensfreude und Leichtigkeit vermittelt?«
Der Zar antwortete nicht.
»Weißt du, warum ich heute Abend aufbleiben darf?«, fragte Olly Mary, als sie sich dem Salon der Mutter näherten.
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