Die Zarentochter
»Bisher hat es immer geheißen, mit meinen vierzehn Jahren wäre ich für Mutters musikalische Abende noch zu jung!«
»Keine Ahnung, warum das heute anders ist«, sagte Mary und prüfte in einem der vielen Spiegel ihre Frisur. Trotz des missmutigen Untertons in ihrer Stimme schien sie recht zufrieden zu sein mit dem, was sie sah.
Olly hingegen hatte sich keine sonderliche Mühe für ihren Auftritt gegeben. Ihr braunes Samtkleid war schon zwei Jahre alt. Olly liebte es dennoch, denn der Stoff war herrlich weich und die Knöpfe aus echtem Perlmutt.
Mary schien ihre Vorliebe nicht zu teilen, denn sie sagte abfällig: »Wie du wieder herumläufst! Es wird wirklich Zeit, dass du dir ein paar neue Kleider machen lässt. Dieses Braun ist so schrecklich altmodisch, völlig untragbar! Zum Glück ist ein musikalischer Abend nichts Besonderes, sonst hätte ich mich mit dir so nicht gezeigt.« Marys Tonfall sollte wohl den einer Dame von Welt wiedergeben, die schon überall gewesen war und alles gesehen hatte.
»Mutter wird den üblichen Kreis um sich versammelt haben, es werden die üblichen Stücke gespielt werden, man wird wie üblich Teetrinken und ein wenig Gebäck zu sich nehmen. Vielleicht wird es zur Krönung des Abends eine kleine Ohnmacht geben oder besonders süffisanten Klatsch. Das war’s dann, und nach ein paar Stunden geht jeder wieder seiner Wege.«
»Du verstehst es wirklich, jemandem Appetit auf etwas zu machen.« Olly lachte. »Aber etwas Gutes hat Mutters Einladung allemal – ich bin Madame Doudine für den Abend los!«
Es war in der Tat der übliche Kreis, den die Mutter um sich versammelt hatte: vier oder fünf ihrer Hofdamen, Tante Helene, die alte Madame Pletschjew, die in früheren Jahren des Öfteren auf Olly und ihre Geschwister aufgepasst hatte, wenn die Eltern auf Reisen waren, und auch Prinzessin Lieven war da sowie die Gräfin Wielhorski mit ihren Töchtern. Die beiden verzogen sich sofort mit Mary in eine Ecke des Zimmers, um zu tuscheln.
Verloren schaute sich Olly um – alle außer ihr schienen in ein Gespräch vertieft zu sein. Wenn sie es geschickt anstellte, würde sie sich dann heimlich aus dem Saal schleichen können? Grand Folie wartete bestimmt sehnsüchtig auf sie.
»Was für ein herrlicher Saal! Wie das Kerzenlicht das Grün der Malachitverzierungen ausleuchtet! Dazu die Säulen und Pilaster aus Malachit – man hat das Gefühl, in einer verzauberten Waldlandschaft zu sein«, ertönte plötzlich eine Stimme neben Olly. »Gestatten Sie, mein Name ist Anna Alexejewna Okulow.«
Verwirrt und erleichtert zugleich ergriff Olly die ihr angebotene Hand. Jetzt stand sie wenigstens nicht mehr ganz allein herum.
»Die Gelehrten sind sich ja bis heute nicht einig darüber, ob der Malachit nun nach dem griechischen Wort ›malache‹ benannt wurde, welches sattgrün bedeutet, oder eher nach dem ebenfalls aus dem Griechischen stammenden ›malachos‹, das weich bedeutet. Was meinen Sie, Großfürstin Olga? Ich glaube mich zu erinnern, dass Ihr verehrter Herr Vater erwähnte, Sie wären eine große Liebhaberin von Mineralien.«
»Das hat mein Vater Ihnen erzählt?« Olly runzelte die Stirn.
»Hätte er das nicht dürfen? Ich erzähle es gewiss nicht weiter.«
AnnaOkulow schmunzelte. »Ach, es ist ein Genuss, in diesem herrlichen Raum sein zu dürfen. Oh, bitte entschuldigen Sie mich einen Moment …«
Olly schaute Anna Okulow dabei zu, wie sie der betagten Madame Pletschjew half, sich auf einem Fauteuil niederzulassen. Sie nutzte die Gelegenheit, den fremden Gast weiter in Augenschein zu nehmen. Anna Okulow war keine klassische Schönheit, man konnte sie nicht einmal hübsch nennen. Zwar waren ihre Gesichtszüge ebenmäßig, ihre Augen groß und der Blick klar, aber die Narbe, die sich quer über ihre Stirn zog, nahm ihrem Antlitz jegliche damenhafte Eleganz. »Sie sieht aus wie eine Piratin«, hätte Kosty bestimmt gesagt. Anna Okulows Frisur verstärkte diesen Eindruck noch. Anstelle eines Knotens oder einer komplizierten Steckfrisur trug sie eine Art Pferdeschwanz, den sie mit lauter kleinen Perlen geschmückt hatte.
Diese Frau sah so aus, als würde sie dem Leben ständig die Stirn bieten, schoss es Olly durch den Kopf, und sie verspürte einen Hauch von Hochachtung. Wer war die Fremde, die sie so offen angesprochen hatte? Wie sie Mutters Salon bewundert hatte, gerade so, als würde sie solch schöne Räume nur selten zu Gesicht bekommen!
Plötzlich hatte Olly das Gefühl, den
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