Die Zarentochter
Salon ebenfalls zum ersten Mal bewusst wahrzunehmen: die sattgrünen Edelsteinschalen, in denen weiße Rosenblüten schwammen, die Tischplatten aus Lapislazuli, auf denen vergoldete Tischaufsätze und Prunkuhren standen, das Kerzenlicht, das sich in den handgeschliffenen Kronleuchtern spiegelte.
Auf dem großen Tisch in der Ecke blubberte der silberne Samowar, ein paar Karaffen mit Likör standen bereit und auch Champagner für diejenigen, die durstige Kehlen hatten. Dazu kleine silberne Schalen mit Gebäck, getrockneten Früchten und anderem Naschwerk. Alles wirkte sehr einladend.
Anna Okulow hatte recht: Es war wirklich ein purer Genuss, in diesem Raum sein zu dürfen, und ganz und gar nicht gewöhnlich, wie Mary behauptet hatte.
Genaudas wollte sie Anna Okulow sagen, als zwei Hofdamen ihrer Mutter angeflattert kamen und den fremden Gast in Beschlag nahmen.
Olly stand eifersüchtig daneben. Sich an dem Gespräch zu beteiligen traute sie sich nicht.
Was die Musik anging, hatte Alexandra Feodorowna sich etwas Besonderes ausgedacht: Ein französischer und überaus gutaussehender Gitarrist namens Napoleon Coste sollte ihre Gäste mit seinem Spiel erfreuen.
Und das tat er auch: Virtuos griff er in die Saiten, begann jedes Stück in langsamem Tempo, nur um kurz darauf rhythmisch exakt in ein höheres Tempo zu wechseln. Die Augen die meiste Zeit geschlossen, die Stirn in höchster Konzentration in Falten gelegt, die etwas zu langen Haare immer wieder aus dem Gesicht werfend, entlockte Coste seiner Gitarre neue, ungewohnte Töne.
Gebannt sah Olly zu, wie seine Finger mit größter Lockerheit über die Saiten des Instrumentes glitten. Glaubte Olly einen Walzer her auszuhören, verwandelte Coste das Stück schon in den nächsten Takten in etwas gänzlich anderes. Hatte Olly die Anfänge eines Menuettes oder Rondos erkannt, improvisierte der Gitarrist und machte sich das jeweilige Stück auf völlig andere Weise zu eigen.
Napoleon Coste hatte schon eine gute halbe Stunde gespielt, als Olly sah, dass sein Instrument anstelle der üblichen sechs Saiten sieben hatte – war dies der Grund für die ungewöhnlichen Klänge? Und wenn schon, wen kümmerte eine zusätzliche Saite, wenn das Ohr und das Herz vor Wonne Sprünge machten! Olly lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und ließ sich von der Musik umschmeicheln, einlullen, in entfernte Länder und Kulturen entführen …
»Ganz nett, was der junge Mann uns da abgeliefert hat – wenn Sie
mir bitte den Zucker reichen?«
»Ein bisschen zu ungewöhnlich, finden Sie nicht?«
»Ungewöhnlich? Beileibe nicht, bei meinem letzten Besuch in London habe ich …«
»SagenSie, haben Sie auch schon von der neuen Ballerina gehört, die …«
»Das Bolschoi-Theater soll nächste Woche …«
Champagnerkelche klirrten, der Samowar blubberte, die Schälchen mit Gebäck wurden herumgereicht. Alle schienen froh, sich nach dem musikalischen Vortrag wieder unterhalten zu können – Coste war schon beinahe vergessen.
Olly hingegen war immer noch wie benommen, sie wollte weder essen noch trinken. Gedankenverloren lutschte sie lediglich an einem Stück Zucker.
»Gestatten Sie, liebe Großfürstin?« Mit einem Lächeln setzte sich Anna Okulow neben Olly aufs Sofa. »So etwas Wundervolles habe ich schon lange nicht mehr gehört – eigentlich noch nie in meinem Leben! Ich glaube, dieser Abend wird noch lange in mir nachklingen.«
»Mir geht es genauso«, sagte Olly verwundert. »Ich habe das Gefühl, als ob ich Costes Spiel entweihen würde, wenn ich zu früh an etwas anderes denke.« Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Es kam selten vor, dass sie vertraut mit einer Fremden plauderte.
Anna Okulow lachte. »Das kann ich gut verstehen. Vielleicht liegt es daran, dass wir zwei eher selten in den Genuss solcher Kunst kommen? Sie, weil Sie zu jung dafür sind. Und ich, weil ich zu arm dafür bin. Für die meisten Gäste hier sind Oper, Theater, das Ballett und Konzerte etwas Alltägliches, da erscheint einem das einzelne Erlebnis als nichts Besonderes mehr.«
Olly war sprachlos – dass sich jemand als arm bezeichnete, hatte sie noch nie erlebt!
Mit einem Lächeln erhob Anna Okulow ihr Glas in Richtung Napoleon Coste. »Auf den Künstler!«
Olly folgte ihrem Blick und sah, dass Mary ihm gerade Champagner und Gebäck brachte und ihn gleich darauf in ein anregendes Gespräch verwickelte. »Das ist wieder einmal typisch für meine Schwester«, platzte sie
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