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Die Zarentochter

Die Zarentochter

Titel: Die Zarentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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Eisen aufgezogen. Ein paar Offiziere machten sich für einen Ausritt bereit. Alle unterbrachen ihre Tätigkeiten, als der kaiserliche Phaeton vorüberfuhr, um zu salutieren.
    »Müssen Sie in so übertriebener Weise grüßen?«, tadelte Charlotte Mary, die jeden Gruß winkend erwiderte.
    Mary kicherte. »Warum nicht? Wer weiß, womöglich befindet sich unter den Herren schon der eine oder andere Heiratskandidat? Sagt man nicht, das Gute läge meist besonders nah?«
    »Deshalb will sie, dass wir jeden Tag diese Strecke fahren«, raunte Adini Olly grinsend zu.
    »Maria Nikolajewna! Ich untersage es Ihnen, mit den kaiserlichen Offizieren in Blickkontakt zu treten. Ein solches Benehmen ist vielleicht einer gewöhnlichen Dirne würdig, aber nicht einer Großfürstin. Madame Baranow mag solches Verhalten tolerieren, ich jedoch nicht!«
    Wie von der Tarantel gestochen fuhr Mary herum. »Wie haben Sie mich gerade genannt – eine gewöhnliche Dirne?«
    »Sie haben mich sehr wohl verstanden«, fuhr Charlotte fort. »Von wegen Naturbeobachtungen! Den Burschen wollten Sie hinterherschauen.«
    »Ha, das ist wohl etwas, was Sie alte Jungfer noch nie in Ihrem Leben getan haben!«, spie Mary aus. »Sie …«
    Vergeblich versuchte Olly, auf die beiden Streithennen einzuwirken. Weitere böse Worte fielen. Als die Kutsche vor dem Landhaus vorfuhr, hatte der Tag für alle vier jegliche Spätsommersüße und Farbigkeit verloren, keine sprach auch nur ein Wort.
    Die vier Räder der Kutsche waren gerade zum Stillstand gekommen, da rauschte Mary auch schon davon.
    Mit hängendem Kopf ging Olly ins Haus. Dieses Mal hatte Charlotte den Bogen überspannt. Nie und nimmer würde Mary den peinlichen Vergleich mit einer Dirne auf sich sitzen lassen.
    AlsCharlotte Dunker am nächsten Morgen nicht zum Frühstück kam, dachte sich Olly nichts weiter dabei: Bestimmt war die Gouvernante von Alexandra gerügt worden und schmollte nun. Olly beschloss, nach den ersten Unterrichtsstunden ein paar Blumen zu pflücken – darüber freute sich die Dänin immer.
    Doch dann dauerte der Versuch, den ihr Chemielehrer Lenz zusammen mit seinem Assistenten durchführte – es ging um die elektrische Telegraphie – fast doppelt so lange wie vorgesehen. Während die Kinder ihr Staunen nicht in Worte fassen konnten, lief der Russischlehrer schon ungeduldig vor der Tür auf und ab. Der Unterricht ging ohne Pause weiter.
    Sofort danach klopfte Olly an Charlottes Zimmertür. Als sie ein leises Rascheln vernahm, presste sie ihr Ohr an die Tür und rief mehrmals Charlottes Namen – nichts rührte sich.
    Auch beim Mittagessen fehlte die Gouvernante. Die Art, wie Mary betont gleichgültig dreinschaute, als Olly nach Charlotte fragte, gefiel Olly gar nicht. Genauso wenig wie die kurz angebundene Antwort ihrer Mutter: Die Gouvernante wäre derzeit nicht zu sprechen.
    Plötzlich hatte Olly das Gefühl, die Luft im Speisezimmer sei mit etwas Unheilvollem erfüllt. Und dieses Etwas schnürte ihre Kehle zu und verdarb ihr den Appetit. Zu gern hätte sie mit ihrem Vater gesprochen – von ihm hätte sie sicher die Wahrheit erfahren. Doch er litt unter Kopfschmerzen, niemand durfte ihn stören.
    Unruhig machte sich Olly auf den Weg ins Studierzimmer. Die Klinke schon in der Hand, kehrte sie auf der Stelle um, rannte durch die Flure, trommelte an Charlottes Zimmertür, rüttelte am Türgriff – und fiel fast kopfüber in den Raum.
    Die Tür war nicht verschlossen gewesen.
    »Charlotte …?«
    Ollys Blick fiel auf den Toilettentisch. Charlottes Bürste, ihre Puderdose, ihre anderen Utensilien – alles fort. Die Umrisse waren in der dünnen Staubschicht, die das Nussbaumholz bedeckte, noch sichtbar.
    »Charlotte?«
    Charlottes Stiche aus ihrer dänischen Heimat – fort.
    IhreSchreibutensilien – fort.
    Nein. Das konnte nicht sein!
    Noch hing der Hauch von Charlottes Parfüm im Raum. Hatte sie die Nacht in einem der kleinen Gästehäuser verbracht? War ihre Aversion gegenüber Mary so groß, dass sie nicht mehr mit ihr unter einem Dach schlafen wollte? Hatte ihre Mutter das gemeint, als sie sagte, die Gouvernante wäre derzeit nicht zu sprechen?
    Zaghaft machte Olly einen Schritt auf den Birnenholzschrank zu. Ihre Hand zitterte, als sie nach dem kunstvoll geschmiedeten Schlüssel griff, an dem eine weinrote Quaste baumelte.
    Der Schrank war leer.
    »Olly, liebste Olly, es tut mir leid. Dass Charlotte ihre Stellung verliert, wollte ich nicht, das musst du mir glauben! Ich hätte

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