Die Zarentochter
Wiesen , Im blühenden Tale , In Prunkgemächern , Und unterm Geglitze r Der lautlosen Nächt e In dir nur ich atme . Tiefinnere Wonne , Tiefinnere Flamm e Verströmst du ins Herz mir . Im Frühling belebend , In köstlichen Blüten , Willst du mich umfange n Mit himmlischer Ruhe , Heilige Liebe !
Wassili Andrejewitsch Shukowski
10. KAPITEL
St. Petersburg, Frühjahr 1830
D er Bretterboden des Witebsker Bahnhofs ächzte unter der noch ungewohnten Last der vielen Stiefel, Galoschen, Latschen und Pantoffeln. Ein paar nicht ganz eingeschlagene Nägel standen hervor und bohrten sich durch die Sohlen. Es war das erste Mal, dass sich Bahnreisende hier einfanden.
Eine illustre Gruppe marschierte in diesem Moment aus dem Wartesaal hinaus auf den hölzernen Bahnsteig: Zar Nikolaus und Zarin Alexandra, der Bruder des Zaren, Großfürst Michael, und seine Gattin Helene, Olly und ihre Geschwister. Auch Wassili Shukowski, Anna Okulow und andere geschätzte Angehörige des Zarenhaushalts hatten die Ehre, und ein paar ausgewählten Gästen wie den Geschwistern Bariatinski war es ebenfalls vergönnt, diese allererste Eisenbahnfahrt auf russischem Boden mitzuerleben.
Seit Wochen berichteten die Zeitungen über das bevorstehende Ereignis. Die St. Petersburger saugten jede kleinste Information gierig auf. Die Meinungen waren geteilt: Viele waren gegen solche neuen Moden und verfluchten die Eisenbahn als Teufelszeug des Westens. Andere wiederum waren stolz, dass die erste Bahnlinie Russlands ausgerechnet hier in »Pieter«, wie die Einwohner ihre Stadt liebevoll nannten, errichtet worden war und nicht in Moskau. Und so war es kein Wunder, dass sich eine große Menge Gegner wie Befürworter – abgeschirmt durch Hunderte von Gardisten – vor dem Bahnhof und entlang der Gleise eingefunden hatte.
»… zurEinweihung begrüßen!« Der Zar schaute in die Runde und erntete begeisterten Applaus.
Anna Okulow klatschte, so fest sie konnte, in die Hände.
Sie war hier. An diesem besonderen Tag. An diesem ganz speziellen Ort. Wieder einmal dankte sie der glücklichen Fügung, die sie in den Zarenhaushalt gebracht hatte.
»Im nächsten Sommer soll diese Strecke über Zarskoje Selo hin aus bis nach Pawlowsk verlängert werden, der Bau weiterer Strecken wird folgen, allen voran natürlich die Bahnlinie zwischen St. Petersburg und Moskau«, erklärte der Zar seinem staunenden Publikum weiter. »Vom Schwarzen Meer bis zur Barentssee, von den Weiten Sibiriens bis nach Moskau und St. Petersburg – irgendwann werden Eisenbahnlinien unser ganzes Land durchziehen! Dann werden nicht nur wir Menschen schneller von einem Ort zum anderen kommen, auch die Rohstoffe unseres Landes werden leichter als bisher ihren Weg in die Städte finden. Und …«
Anna versuchte, kein Wort des Zaren zu verpassen und gleichzeitig Olly im Auge zu behalten, die im Gedränge mit Maria Baria tinski und deren Bruder zusammenstand.
Einen Moment lang verdüsterte sich Annas Miene. Dass der Zarewitsch von all seinen Freunden ausgerechnet den Prinzen Bariatinski hatte einladen müssen! Seit dem Fest bei Großfürstin Helene scharwenzelte er mehr um Olly herum, als ihr, Anna, lieb war. Doch lange währte ihr Ärger nicht, denn die Rede des Zaren war zu Ende und tosender Beifall folgte.
»Was für ein wunderbares, passendes Wetter!« Großfürst Michael strahlte übers ganze Gesicht. Gutgelaunt legte er einen Arm um seine Frau Helene.
»Die Eisenbahn ist völlig wetterunabhängig, wenn ich das anmerken darf«, sagte sogleich ein Herr mit Zylinder. »Regen, Schnee, Wind – so etwas mag Pferdekutschen zum Verhängnis werden, die Eisenbahn bringt ihre Passagiere dennoch sicher an ihr Ziel.«
»Wer ist das?«, flüsterte Anna dem Grafen Bobrinski zu, der rechts neben ihr stand.
Aufihr Anraten hin war er kürzlich zu Olgas Kammerherr ernannt worden. Anna war der Ansicht, dass es manche Dinge im Leben gab, die sich ein junges Mädchen vielleicht lieber von einem feinen älteren Herrn erzählen ließ als von ihr. Der Graf war klug, belesen und vertrat auf vielen Gebieten der Technik, Wirtschaft und Wissenschaft moderne Ansichten. Mehrmals in der Woche nahmen Olly und er ihren Tee zusammen ein und parlierten über Gott und die Welt. Die junge Frau profitierte von seinem Wissen und bildete sich mit seiner Hilfe in allen zeitgemäßen Fragen weiter. Eigentlich hätte Olly auch heute an seiner Seite sein sollen, damit er ihr Einzelheiten zum Eisenbahnwesen erläutern konnte. Aber
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