Die Zarentochter
Olly zog eindeutig andere Gesellschaft vor …
»Ein berühmter österreichischer Professor, er ist Leiter des Polytechnischen Instituts in Wien. Ihn hat der Zar beauftragt, unsere Eisenbahn zu entwerfen«, sagte der Graf mit glänzenden Augen. »Franz Anton von Gerstner ist sein Name und er –« Seine nächsten Worte gingen im lauten Raunen der Gäste unter, weil durch das riesige Tor des Lokschuppens schnaufend und dampfend die schwarze Lok samt ihren acht Wagen angerollt kam.
Schon vor Wochen hatte Nikolaus genau festgelegt, wer in welchem Wagen mitfahren würde: Adini, ihre jüngeren Geschwister sowie deren Betreuer saßen in einem Wagen. Die älteren Kinder würden mit dem Zarenpaar reisen, auch Anna und Graf Bobrinski sollten im Zarenwagen mitfahren, was Anna als besondere Ehre empfand.
»Und damit geht’s jetzt nach Zarskoje Selo«, hauchte Mary, während Adini und die kleineren Geschwister aufgeregt von einem Bein aufs andere hüpften.
»Wenn ich bitten darf?« Graf Bobrinski wollte gerade Olly den Arm reichen, um ihr beim Besteigen des Wagens zu helfen, als ihm Iwan Bariatinski zuvorkam.
Eilig ergriff Olly seine Hand. »Ein wenig aufgeregt bin ich schon«, sagte sie und strahlte übers ganze Gesicht.
Anna runzelte die Stirn. Wie Ollys Augen funkelten, kaum dass der Offizier in ihrer Nähe war!
Eswar ja nicht so, dass sie ihrem Zögling diese ersten Verliebtheitsgefühle nicht gönnte – nur galt es, darauf zu achten, dass die Sache nicht zu weit gedieh.
»Verehrter Prinz Bariatinski, wenn ich mich nicht täusche, stehen Sie und Ihre liebe Schwester auf der Gästeliste für den nächsten Wagen«, sagte sie.
»Das mag sein, aber Sascha bat mich ausdrücklich, in seinem Abteil mitzureisen«, sagte Iwan und setzte sich neben Olly.
Anna blieb nichts anderes übrig, als den Platz ihr gegenüber einzunehmen.
»Oje, jetzt sitzt du mit dem Rücken zur Fahrtrichtung! Willst du nicht lieber ins nächste Abteil gehen?«, fragte Olly betont liebenswürdig. »Du könntest neben Wassili Shukowski Platz nehmen.«
»Danke nein«, sagte Anna schmallippig. »Es reicht, wenn andere die Sitzordnung deines Vaters durcheinanderbringen.«
Kaum saßen alle, ertönte ein schrilles Pfeifen. Rumpelnd und stöhnend setzte sich der Zug in Bewegung, er spuckte und keuchte anfangs so sehr, dass sich die Gäste besorgt anschauten und Großfürstin Helene zu beten anfing.
»Es geht los!«, rief Nikolaus und sah aus, als hätte er dem Kohlen schipper am liebsten bei seiner Arbeit geholfen.
Dichter Rauch drang ins Abteil, und einige der Damen begannen zu husten. »Das stinkt ja fürchterlich!«, rief Helene und wedelte hektisch mit ihrem Taschentuch.
»Pferdemist stinkt auch«, entgegnete Olly. Anna musste sich ein Grinsen verkneifen. Mit dem Kohlenqualm war auch ihr Ärger verflogen. »Die erste Zugfahrt Russlands, und wir sind dabei, ist das nicht toll?«, sagte sie zu niemand Bestimmtem.
Nie hätte sie gedacht, dass das Innere einer Eisenbahn so schön wäre! Und so groß. Viel größer und bequemer als jede Kutsche, die sie kannte.
Die Sitzbänke und Wände waren mit tiefrotem Samt bespannt, in den das Wappentier der Romanows, der goldene Doppeladler, eingestickt worden war. Über den Fenstern hingen Schabracken in Dunkelgrün, Öllampen aus Messing rundeten das stilvolle Interieur derWägen ab. Zwischen den Sitzbänken standen kleine Tische, Getränke jeder Art wurden gereicht.
»Um Himmels willen, der Zug wird ja immer schneller! In der nächsten Kurve werden wir ins Unglück stürzen«, rief Helene und bekreuzigte sich.
»Zur Sorge besteht kein Anlass, meine Damen und Herren. Ich habe die Bahn so gebaut, dass …« Voller Hingabe erläuterte der österreichische Bahnkonstrukteur seine Arbeit.
Die Fahrt führte durch die Stadt hinaus aufs freie Land. Aus allen Wagen waren laute »Ahhs!« und »Ohhs!« zu hören, kaum ein Gast konnte sich dem Zauber der Fahrt entziehen. Wie schnell die Birken, Espen und Fichten an einem vorüberzogen! Hier – das Landhaus der Gräfin Wielhorski, gerade war das kleine Türmchen zu sehen, auf das sie so stolz war, da flog es im nächsten Moment auch schon an den Fenstern des Waggons vorbei. Der See, an dem man mit den Pferdewagen immer anhielt, um die Rösser zu tränken – schon wieder weg!
Anna jedoch warf kaum einen Blick aus dem Fenster, vielmehr hatte sie ihre Gegenüber genauestens im Auge. Saßen Olly und der junge Prinz nicht viel zu nahe beieinander? Und was hatten die
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