Die Zarin der Nacht
einmal gesehen hat: Eine tickende Uhr wird in ein Glasrohr gestellt. Wenn man die Luft herauspumpt, kann man den Tickmechanismus der Uhr noch sehen, ihn aber nicht mehr hören.
»Es ist übrigens Doktor Beddoes«, sagt er schlieÃlich und legt das VergröÃerungsglas beiseite, »der dieses englische Heilverfahren vorschlägt.«
Sie hört ihm aufmerksam zu. Das elastische Verhalten der Luft hat sie schon immer fasziniert. Materie, die sich formen, gestalten lässt. »Aber wäre das nicht gefährlich?«, fragt sie und denkt an eine Vorführung am Hof, die der Erzieher ihres Enkels organisiert hatte. »Ich habe selbst gesehen, wie schnell das Vakuum eine Taube töten kann.«
Ihr Leibarzt versichert ihr, dass Doktor Beddoes in seiner Kammer kein Vakuum herstellt, sondern nur den Luftdruck reguliert. Doch als sie dann tatsächlich ernsthaft fragt: »Sollte ich es also versuchen? Soll ich nach Doktor Beddoes schicken?«, rät Rogerson ihr davon ab, kostbare Zeit und Geld zu verschwenden. »Doktor Beddoes«, sagt er, »ist so unglaublich fett, Madame, dass man ihn das wandelnde Federbett nennt.«
Das Skalpell hat einen geschnitzten Griff.
Ihr Arzt ist derart schnell, dass sie den Augenblick, in dem die Schneide des Skalpells die Haut aufschlitzt, verpasst. »Nur
zwei Unzen, Madame«, sagt er. »MaÃhalten ist die beste Methode.«
Als ihr Bein wieder verbunden ist, fragt sie: »Ich habe jedes sinnliche Verlangen verloren. Gibt es irgendetwas, das Sie tun können, um es wieder zu wecken?«
Rogerson runzelt die Stirn. »Ist das eine neue Entwicklung, Madame?«, fragt er.
Eine Beichte wird verlangt. Das Eingeständnis eines weiteren Verlusts. Der schlechter zu ertragen ist, als sie jemals gedacht hätte. Nein, es ist nicht neu. Es kommt und geht wie Ebbe und Flut. Nun hat aber auch das aufgehört, und sie ist im Innern geschrumpelt, vertrocknet. Es ist so, als hätte eine achtlose Magd ihre Haut zu heftig mit Asche geschrubbt. Nichts kann mehr die süÃe alte Lust wecken. Selbst in Zarskoje Selo, in den Liebesgemächern, die sie mit so groÃer Sorgfalt eingerichtet hat, lässt ihr Körper sie im Stich. Nymphen und Satyrn können kopulieren, so viel sie wollen. Skulpturen können die Wonneschauer der Leidenschaft offen ausbreiten. Bücher können das Ziehen des Verlangens beschreiben, doch nichts regt sich in ihr, nur die Erinnerung an das, was einst war.
»Wieso?«, fragt sie ihren Arzt.
Aber Rogerson hat niemals Antworten, die sie zufriedenstellen. Er kann nur davon sprechen, dass ihr Schoà sich zusammenzieht und dass ein Körpersaft auf Kosten eines anderen aufgefrischt werden muss.
Aus seiner Sammlung von Elixieren wählt er drei Fläschchen mit weiÃen Etiketten: Teriac Farook. Tribulus Terrestris. Auszug aus Ingwer und Epimedium .
Sie soll täglich dreimal je dreiÃig Tropfen mit Wasser nehmen.
Wenn das nicht hilft, wird er Nachschub an Knabenkraut und stärkender Marmelade aus Satyrwurzel besorgen. Und dazu Naschwerk aus der Mannstreu-Pflanze, das er von seiner letzten Reise in die Heimat mitgebracht hat.
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»Gibt es Neues von Bolik?«, fragt sie Anjetschka.
»Keine Spur von ihm«, erwidert Anjetschka und schlurft zum Fenster, um den Raum nach dem Arztbesuch zu lüften. Argwöhnisch beäugt sie die Fläschchen mit den Tinkturen, die Rogerson ordentlich der GröÃe nach aufgereiht hat. Schon der Geruch, den sie verströmen, bereite ihr Kopfschmerzen, behauptet ihre Kammerzofe.
»Weint sie immer noch?«
»Die ganze Zeit. Nase rot, Augen geschwollen. Nägel abgekaut.«
Das sind keine willkommenen Nachrichten. Nicht jetzt, wo Alexandrine so strahlend wie möglich aussehen muss.
Alexandrine ist Anjetschkas Liebling unter den kleinen GroÃfürstinnen, weshalb das, was sie als Nächstes sagt, noch beunruhigender ist. »Das liebe Kind hat mich wieder nach Xenia gefragt.«
Um Xenia, die Segensreiche, ranken sich viele Geschichten, alte und neue. Der plötzliche Tod ihres leichtfertigen Gatten, der keine Zeit mehr fand, seine Sünden zu bereuen, bringt seine junge Frau dazu, sich dessen Uniformrock anzuziehen, den grünen mit rotem Besatz. Sie verzichtet auf all ihre irdischen Güter und irrt durch die StraÃen von Sankt Petersburg, um BuÃe für seine Sünden zu tun. Und so zieht jetzt eine alte Frau, das lange Haar grau und
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