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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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klügere Männer als Rogerson glauben, ein Land zu regieren bestünde einfach darin, ein paar Sätze zu verfassen und sie mit Ausrufezeichen zu bekräftigen.
    Aber Rogerson ist heute bescheidener, beschränkt sich darauf zu informieren, ohne Lösungen anzubieten.
    Er berichtet ihr von statischer Aufladung, die er »einen weiteren Beweis der Kraft der Natur« nennt, und beschreibt ein Experiment, bei dem der Finger einer Frau tatsächlich knisternde Funken versprühte.
    Die Lektionen ihres Arztes sind ungleich nützlicher als seine Tinkturen und Aderlässe. Zur Vertiefung seiner Weisheiten versenkt er sich in die Bücher der kaiserlichen Bibliothek und korrespondiert mit englischen Ärzten. Da ist er schlau. Weiß, dass sie den Wert einer Unterhaltung an der Menge der vermittelten Informationen bemisst. Es gibt keine Medizin gegen Neugier, sagt sie gern.
    Â»Eine schreckliche Vergeudung.« Rogerson schüttelt den Kopf, während er ihr an medizinischen Beispielen den Schaden verdeutlicht, der dadurch entsteht, dass etwas Natürliches unterdrückt wird. Blockierte Lebenskraft führt zu Furunkeln. Schränkt andere Fähigkeiten ein. Bringt unruhigen Schlaf, sorgt für Trockenheit im Mund und in den passages intimes . Was nicht benutzt wird, verkümmert entweder oder reagiert gereizt. Beides führt letztendlich zu schweren Krankheiten.
    Rogerson sieht hoch, sucht ihren Blick, während seine Hände sich mit ihrem schlimmen Bein beschäftigen.
    Es muss täglich versorgt werden. Die Wunden heilen nicht. Die Wundränder sind gerötet, es tritt gelblicher Eiter aus. Die Schwellung geht nie zurück. Kommt daher die Ungeduld? Das Bedürfnis, auf die Grenzen des medizinischen Wissens hinzuweisen?
    Â»Warum werde ich dicker?«, fragt sie und unterbricht Rogersons Grübelei. »Ich habe nie viel gegessen. Ich habe nie mehr
getrunken, als Sie mir geraten haben, Monsieur. Was geschieht da im Innern meines Körpers?«
    Doktor Rogerson hat Narben vom stumpfen Rasiermesser eines fahrlässigen Barbiers am Kinn. Wischka berichtet, dass er Geld nach Schottland schickt. Ein Cousin mütterlicherseits sucht dort nach einem Landgut. Vor einigen Jahren hat sie noch gedacht, ihr schottischer Arzt könnte ein geeigneter Ehemann für Anjetschka sein. Bis Besborodko sie auf folgenden Satz in Rogersons Brief an seinen Edinburger Freund hinwies: Die Kaiserin wünscht, dass ich einer Frau den Hof mache, deren Interesse eindeutig in eine andere Richtung geht.
    Ihr Arzt ist überzeugt, dass Sauerstoff der Schuldige ist. »Pneumatische Chemie, Majestät«, sagt er. »Die Atemwege entziehen dem Körper Sauerstoff und mischen ihn mit dem Kohlenstoff aus der Nahrung.« Normalerweise sollte dieser Kohlenstoff ausgeschieden werden, erklärt er, aber in manchen Organismen werde dieser Vorgang verhindert. Heilung erfolge dadurch, dass man mehr Sauerstoff ins System bringt.
    Â»Wie?«, fragt sie.
    Â»Durch das Einatmen behandelter Luft, Madame.«
    Â»Warum sollte ich Ihnen glauben?«
    Â»Eine kluge Frage, Majestät. Majestät wissen mehr um die Beschränkungen des menschlichen Verstands als ich.«
    Rogerson ist ein schlauer Höfling. Er sagt nicht, sie soll an seine Theorien glauben, sondern setzt vielmehr auf einen wissenschaftlichen Verstand: Solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, gilt das Gesagte als plausibel.
    Mit überlegten Bewegungen packt Rogerson seine Tasche aus. Ein Skalpell für das Öffnen der Vene in ihrem Bein, die Schale für ihr Blut. Er breitet beides auf einer sauberen Leinenserviette aus, platziert das Skalpell in zeremonieller Weise. Die Medizin hat keine Bedenken, sich der Magie zu bedienen.
    Abrakadabra?
    Die Menschheit macht sich gern etwas vor.
    Â»Darf ich, Madame?«, fragt er, bevor er ihr die Pantoffeln auszieht und sich ihre Zehen genau ansieht. Einer erfordert seine besondere Aufmerksamkeit. Er greift nach einem Vergrößerungsglas.
    Â»Heilung durch behandelte Luft«, sagt sie und nimmt das Gespräch wieder auf. »Wie geht das vonstatten?«
    Den Blick weiter auf den Zeh gerichtet, erklärt Rogerson, dass Luft in eine Kammer hinein oder aus ihr herausgepumpt werde, und zwar durch einen Blasebalg, mit dem der Druck sich verstärken oder verringern lasse. Nach dem Boyleschen Gesetz verringere sich das Gasvolumen bei erhöhtem Druck. Er erinnert an ein Experiment, das sie schon

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