Die Zarin der Nacht
glanzlos, sommers und winters, in Schnee und Matsch, barfuà durch StraÃen und Felder, ungeachtet spitzer Steine und stechender Stoppeln. Wenn Xenia zu einem Menschen sagt, er möge nach Hause gehen und Blini backen, wird jemand in dessen Familie sterben. Xenia kann Wunder vollbringen. Mütter folgen ihr, bitten sie, ihre Kinder zu segnen. »Die Segensreiche Xenia kann in die Zukunft sehen«, behauptet Alexandrine.
Für Alexandrine sollte die Segensreiche ein Tabuthema sein. Das war nicht immer so, aber jetzt, nach ihren allzu häufigen Bitten, ob sie die Frau einmal sehen dürfe, ist es nötig. Manche
Menschen müssen vor sich selbst beschützt werden. Zu ihrem eigenen Besten.
»Ein junger Geist ist beeindruckbar, Majestät«, meint Anjetschka tröstend. »Nur zu bald wird anderes sie beschäftigen.« Doch in ihrer Stimme schwingt Zweifel mit. Anjetschka ist schon zu lange am Hof, um die Gefahren der Unschuld zu unterschätzen. Und das Bedürfnis nach Heiligkeit, das zu Entsagung führt. Viel gefährlicher als manches andere, da vom Glauben geleitet.
Es ist nicht schwer zu begreifen, was Alexandrine an den Geschichten über Xenia so fasziniert. Ihre Enkelin hat Angst vor einem plötzlichen Tod. Einem Blitzschlag von oben. Angst davor, unerwartet in die Ewigkeit abberufen zu werden. Bericht erstatten, ihre Taten rechtfertigen zu müssen.
Ein Schicksal, dem ihre arme Schwester Olga sich stellen musste.
In eine so junge Kinderseele graben sich Ãngste und Befürchtungen tief ein. Besonders, wenn der Beichtvater nichts gegen ihre Ãbermächtigkeit unternimmt. Als ich in Alexandrines Alter war, denkt sie, war es das Leben, das meine Phantasie anregte, keinesfalls ein heiliger Verzicht. Meine Ãngste galten nicht dem Jenseits, sondern dieser Welt hier.
Sophie von Anhalt-Zerbst wurde nicht als GroÃfürstin des russischen GroÃreichs geboren. Sophie von Anhalt-Zerbst hätte ihr Leben in irgendeinem einsamen Schloss fristen können, in einem eiskalten Türmchen, als Herrin über Kohlfelder und Viehherden.
Unbedeutend, vergessen.
Allein.
*
Auf ihre Bitte hin begleitet der strahlende Le Noiraud, das dunkelblaue Band des Ordens vom WeiÃen Adler quer über der
Brust, die schwedischen Gäste in den Diamantsaal. Bist du jetzt glücklich?, denkt sie, als sie sieht, wie Platons Augen zu den Glasvitrinen huschen, in denen auf rotem Samt die Kronjuwelen funkeln. Ein Wink an die Gäste, seinem Beispiel zu folgen. Was sie nicht tun.
Mit siebzehn sieht der König von Schweden, auf die glatte, frische Art der Jugend, auÃerordentlich gut aus. Der hochgewachsene, anmutige Prinz mit dem blassen, schmalen Gesicht und den langen, auf die Schultern fallenden Haaren nähert sich ihr, in schwarzen Samt gekleidet, mit bemerkenswerter Würde.
»Verehrter lieber Graf! Wir alle heiÃen Sie in Russland willkommen!«
Sie nennt ihn Graf, denn Gustav Adolf IV . von Schweden ist inkognito, als Graf von Haga, nach Russland gereist. Sein Onkel â Regent bis zur Volljährigkeit des Königs â, der direkt neben ihm steht und seinem Neffen kaum bis zur Schulter reicht, hat für sich den Namen Graf von Wasa gewählt.
Katharina sitzt in ihrem goldenen Sessel mit den geschnitzten Doppelkopfadlern. Man hat ihr Rouge aufgelegt, sie gepudert und in goldene Stoffe gehüllt, sie funkelt vor kostbaren Steinen. Ihr Gewand ist schwer und steif wie eine Rüstung. Schweià sammelt sich in ihrem Nacken und läuft ihr die Wirbelsäule hinab. Es ist früher Nachmittag und heiÃ, trotz der geöffneten Fenster und einer leichten Brise von der Newa.
Sie hat Platon angewiesen, die schwedischen Besucher durch die Raffael-Loggia hierher zu bringen. Die Galerie ist Quarenghis Meisterwerk, aber sie war ihre Idee, eine Kopie der sogenannten »Raffael-Bibel« im Vatikan. Die Fresken mit den biblischen Szenen, von der Schöpfung bis zum Letzten Abendmahl, dazwischen lauter Blumen, Früchte und Vögel, gelten als Malschule und Vorbild für ganz Europa. Die Szenen sind ebenso friedlich wie heiter. Raffael bevorzugte, so wie sie auch, das glückliche Ende. Nur die Bilder vom Letzten Abendmahl deuten auf Tod und Wiederauferstehung hin.
Die Gäste haben auch die Bibliothek der Eremitage durchquert, an deren Wänden die besten Porträts der Romanows hängen. Platon hatte dafür zu sorgen, dass der König vor dem
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