Die Zarin der Nacht
auf liebreizende Weise hübsches Mädchen, zierlich. Als pikant hat jemand sie beschrieben. Bei ihrer Ankunft in Russland trug sie ein einziges fröhliches Strahlen im Gesicht. Jetzt sind ihre Augen voller Tränen.
»Majestät«, murmelt sie und küsst Katharina respektvoll die Hand.
»Was gibt es, Anna?«
Anna antwortet nicht.
»Setz dich, mein Kind«, sagt Katharina und reicht ihr ein Taschentuch. Doch anstatt sich die Augen zu wischen, reibt sie an ihnen, als versuchte sie, einen hartnäckigen Fleck wegzubekommen. Diese Augen waren einmal ihr gröÃter Vorzug. Sie schienen kühn und beredsam zu sein, versprachen eine gewisse Unerschrockenheit, die dem Mädchen vielleicht zugute kommen würde. Doch jetzt zeigte Anna wenig Widerstandsfähigkeit.
»Es tut mir so leid, Majestät! Bitte helfen Sie mir.«
»Was tut dir leid?«, fragt sie. »Hast du irgendetwas Falsches getan?«
»Oh nein«, sagt das Mädchen rasch. Sie hat den Ausdruck wohl nur gewählt, weil sie glaubt, er gefalle der Kaiserin. Sie hat die Hände voneinander gelöst und auf ihren Leib gelegt. Ist sie etwa schwanger ? Und übertrumpft so Elisabeth!
Doch Anna macht nicht das verträumte Gesicht einer zukünftigen Mutter.
Eigentlich wünscht man diese Vertraulichkeiten nicht. Es wäre ihr lieber, wenn sie sich aus den unerfreulichen Details der Ehe ihres Enkels heraushalten könnte. Wenn ihr Vermittlungsversuche und Tränen erspart blieben. Sie erinnert sich noch an Annas Ankunft in Russland, an die Feste, die Soireen, die zahllosen kleinen Fluchten des Mädchens in die Schatz
kammern des Winterpalasts, weil sie die kaiserlichen Juwelen oder die prachtvollen Kronleuchter im Ballsaal sehen wollte, während Maman ihre Erkundungen einzog. Man hätte doch erwarten dürfen, dass die kleine Gans darüber informiert wurde, was eine kaiserliche Hochzeit mit sich bringt.
Wieso wird sie, die Kaiserin und GroÃmutter, mit unerfreulichen Szenen eines Familiendramas behelligt?
»Was du zu sagen gekommen bist, lässt sich nicht auf angenehme Weise sagen, Anna«, erklärt sie so kurz angebunden wie möglich, ohne dass es verärgert klingt. »Also sprich es einfach aus.«
Das Mädchen zögert. »Kaiserliche Majestät sind so freundlich zu mir gewesen â¦Â« Schon seit vier Monaten verheiratet. Es wird Zeit, die Grenzen kindischer Träumerei zu erkennen. Zeit, ihre Romane wegzulegen.
»Also, mein liebes Kind?«, fragt Katharina. Und denkt: Du vergeudest meine Zeit, stiehlst mir Minuten, die ich für Angelegenheiten benötige, die mehr Gewicht haben als eine Braut, die dort sehr viel Glück erwartet, wo doch nur wenig möglich ist.
»Mein Mann liebt mich nicht«, platzt Anna heraus.
Da sind der kleinen Prinzessin also einige Träume zerstoben. Gott hat dir wirklich ein paar gute Karten in die Hand gegeben, möchte Katharina sagen, aber du musst sie auch gut ausspielen. Stattdessen fragt sie: »Warum sagst du das?«
»Er ist häufig niedergeschlagen.«
»Wieso stört dich das? Er war schon immer so veranlagt.«
»Er sagt seltsame Dinge.«
»Was für Dinge?«
»Dass er fortlaufen möchte und bei den Soldaten leben. Dass er sich eine Hütte in der Erde graben und darin leben wird.«
»Sagt er das oft?«
»Ja.«
»Hat er es auch nur ein einziges Mal getan?«
»Nein. Aber manchmal verschwindet er für eine ganze Nacht und sagt mir nicht, warum. Oder wohin er geht.«
»Und warum musst du jeden seiner Schritte kennen?«
Annas Augen verraten immer mehr zögernde Zurückhaltung. Eine dumme junge Frau, die vergisst, wie wenig sie mit in diese Ehe gebracht hat. Warum müssen Menschen an ihre Bedeutungslosigkeit erinnert werden? Warum erträumen sie sich, wenn man sie sich selbst überlässt, immer wieder ein anderes, schöneres Leben? Ihre Spione berichten ihr, dass Anna den Avancen hübscher Höflinge nicht abgeneigt ist. Hat Konstantin das bemerkt? Und versucht sie deswegen, ihn schlechtzumachen?
»Liebe verehrte Majestät, ich bitte Sie«, wimmert Anna.
Da ist noch mehr. Konstantin hat seiner Frau gesagt, dass er sie nur geheiratet hat, damit seine GroÃmutter aufhört ihn zu schelten.
»Aber das ist doch kindischer Unsinn!«, ruft Katharina. »Du kennst ihn nicht so gut wie ich. Du musst ihn mit irgendetwas verärgert
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