Die Zarin der Nacht
langen Spaziergängen gesprochen?
Hier ist der Bericht ihres Spions nicht sehr erhellend. Die zwei Wanderer haben die Dienstboten fortgeschickt. Ihre Ausrüstung selbst getragen. Die Zeugenaussagen einiger weniger Bauern, in deren Hütten die beiden um etwas zu essen baten, sind kurz: Die jungen Herren hätten sich an Schwarzbrot, saurer Sahne und besonders auch an frisch gebrautem Kwass, direkt aus dem Rübenkeller, gelabt.
Die Schlussfolgerung?
Hier ist der Bericht deutlich. Nachteile dieser Freundschaft: GroÃfürst Alexander hat ein weiches Herz und neigt zu idealis
tischer Schwärmerei. Was für polnischen Unsinn könnte Prinz Adam einem zukünftigen Zaren einflüstern? AuÃerdem gibt es Eifersucht am Hof, weil der kaiserliche Enkel sich nicht einen russischen Prinzen als Gefährten ausgesucht hat.
Vorteile? Für einen zukünftigen russischen Zaren ist ein einflussreicher polnischer Freund von groÃem Nutzen. Besonders einer mit einem feinen Verstand, in dessen Gesellschaft Alexander nicht zu jugendlichem Unfug angestiftet wird. Es sind schon Bücher aus der kaiserlichen Bibliothek entnommen worden: Rousseau. Tacitus. Plutarch. Cicero. Erst in der vergangenen Nacht haben die beiden stundenlang die amerikanischen Prinzipien der Staatsführung diskutiert.
Wenn dieser angeregte Ideenaustausch sich fortsetzt, hört Alexander vielleicht auf, aus dem Palast zu schleichen, um an den Gatschina-Paraden seines Vaters teilzunehmen. Einige Hinweise gibt es schon. Seine Gatschina-Uniform liegt zwar noch immer in einer abgeschlossenen Schublade in seinem Zimmer, aber er hat sie schon seit einer ganzen Woche nicht mehr ausgebürstet.
Darum empfehle ich Geduld, verbunden mit Vorsicht, schlieÃt Besborodko. Zumal junge Menschen Geständnisse heutzutage unwiderstehlich finden.
Er hat recht. Am Hof bleibt wenig verborgen. Und Geheimnisse werden früher oder später einem Brief oder den Seiten eines Tagebuchs anvertraut. Und Geduld war immer schon Katharinas Freundin.
Sie wendet sich wieder Besborodkos Zusammenfassung von Alexanders und Adams nächtelanger Diskussion zu. Die beiden hatten offenbar beschlossen, es müsse zuerst eine Frage geklärt werden: Was bewahrte die amerikanische Revolution vor den Exzessen des französischen Debakels? Alexander sieht die Ursache im Schicksal und in den Eigeninteressen der Menschen. Und Adam führte die unendliche Weite des Landes und den Mangel an traditionellen Strukturen als Gründe an.
Katharinas Sohn Paul ist eine bittere Enttäuschung, eine Peinlichkeit, die sie nicht verdient hat, aber ihr Enkel ist ihre gröÃte Belohnung. Ihr gewandter, intelligenter, gutaussehender Enkelsohn, dessen Verstand sie seit dem Tag seiner Geburt geformt hat. Dessen aufmerksamen ersten Baby-Blick sie im Geiste immer noch vor sich sieht. Ein Versprechen, das sich so groÃartig erfüllt hat.
Ihr Monsieur Alexander.
Ihr Fleisch und Blut.
Denn in ihm kann sie sich selbst erkennen.
Er ist Russlands Zukunft.
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Sie ist immer noch ganz in Gedanken versunken, als sie ein unterdrücktes Schluchzen vor ihrem Zimmer vernimmt.
»GroÃfürstin Anna Fjodorowna bittet, empfangen zu werden«, sagt Anjetschka mit einem schiefen Lächeln auf ihrem runden Gesicht. »Auf den Knien.«
Anjetschka riecht nach Gebäck. Nach Pflaumen, Beeren und geschmolzener Butter. Sie muss wieder in der Küche gewesen sein und konnte wohl den brodelnden Töpfen und der süÃen Schaumcreme frischer Füllungen nicht widerstehen.
»Jetzt?«, fragt Katharina und wirft einen Blick auf ihren Schreibtisch.
Das Schluchzen hört nicht auf.
»Anna Fjodorowna besteht darauf«, sagt Anjetschka. »Ich habe ihr gesagt, sie soll morgen wiederkommen, aber sie will nicht hören. Sie ist völlig auÃer sich, Majestät.«
»Dann lass sie hereinkommen«, sagt Katharina seufzend. Wenn Anna jetzt weggeschickt wird, geht sie mit ihrem Kummer zu Elisabeth oder Alexandrine. Verdirbt ihnen die Laune.
Anjetschka öffnet die Tür. Konstantins junge Frau stürzt herein. Ihre schwarzen Haare sind flüchtig hochgesteckt, rote Bänder flattern hinter ihr her. Die Ãrmel ihres weiÃen Morgenmantels haben RuÃflecken. Hat sie versucht, Feuer zu ma
chen? Im August? Sie hat Ringe unter ihren haselnussbraunen Augen, faltet die Hände und presst sie an ihre schmale Brust, zupft an den Falten ihres Schultertuchs.
Ein
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