Die Zarin der Nacht
ein Schuljunge wegschicken.
Die Schweden, berichtet Wischka, stünden in der Empfangshalle, beeindruckt von den Geschenken, die sie von der Kaiserin erhalten hätten, und überlegten, wie sie sich am besten bedanken könnten.
»Hervorragend«, sagt sie, als Wischka sich kurz unterbricht, um Luft zu holen. »Jetzt schaff mir Konstantin her. Ich muss mit ihm reden.«
Aus den Augenwinkeln kann sie sehen, wie Paul sich zu Maria Fjodorowna hinunterbeugt, die ungläubig den Kopf schüttelt. Als seine Frau ihn etwas fragt, zuckt er mit den schlaksigen Schultern und geht grollend davon.
Stolz, denkt sie, ein weiterer Fehler der Schwachen.
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Ihr jüngerer Enkel nähert sich, verschwitzt vom Tanzen, im breiten Gesicht ein Grinsen, das seine kräftigen Zähne entblöÃt â der Traum eines jeden Musterungsoffiziers. Er sieht nicht so gut aus wie Alexander, aber ebenso wie sein älterer Bruder, der vermutliche Erbe des russischen Throns, kommt er nach seiner Mutter. Keine Anzeichen von Pauls Mopsnase oder dessen schlaksigem Gliederschlenkern.
Eine Erinnerung blitzt auf. Ihre Enkel werden von den Kinderfrauen zu ihr gebracht, um von ihren Tageserlebnissen zu erzählen und gute Nacht zu sagen. Die beiden Jungen müssen schon Hosen getragen haben, denn sie erinnert sich, dass Kon
stantin, der hinter Alexander stand, an seiner Hose herumzupfte. Sie erinnert sich, wie sie strahlten, wie sie die Arme um den Hals ihrer GroÃmutter schlangen, wie süà ihre kleinen Körper dufteten.
»Ich brauche den Marmorpalast, Konstantin«, sagt sie. »Ich möchte KoÅciuszko dort unterbringen.« Sie erklärt ihrem Enkelsohn, dass der besiegte polnische General immer noch kränkelt und mehr Annehmlichkeiten benötigt, als die Peter-und-Paul-Festung bereitstellen kann. »Unterdessen könnt ihr beide bei mir im Winterpalast wohnen.«
Sie möchte, dass er glaubt, sie verlasse sich auf ihn in einer dringenden Notlage. Er soll nicht auf die Idee kommen, seine Frau habe ihr ihre Sorgen gestanden.
»Manch einer wird dich um diese direkte Nachbarschaft mit mir beneiden«, fährt sie fort. »Ich weiÃ, dass es dir nicht zu Kopf steigen wird, aber was deine junge Frau angeht, bin ich mir da nicht so sicher, deshalb bitte ich dich, wachsam zu sein.«
Anna Fjodorowna, erklärt sie ihm, sei flatterhaft und ein wenig eitel. Sie könnte den Umzug falsch verstehen, als ein Zeichen ihres gesellschaftlich überlegenen Status. »Ich erwarte, sie täglich an meiner Seite zu sehen, und das nicht, um sie über ihre Schwägerinnen zu erheben, sondern um ihr etwas mehr Schliff, mehr Zurückhaltung beizubringen. Sie braucht meine Hilfe, um geformt zu werden. Mehr als ich dachte.«
Konstantin murrt. »AuÃerdem ist sie boshaft, Grandmaman! Und dumm. Du solltest hören, was Anna manchmal sagt!«
Sie lässt das unkommentiert. Sie möchte sich nicht mit ihm über die Unzulänglichkeiten seiner Frau unterhalten. KoÅciuszko ist ein sehr viel geeigneteres Thema. Konstantin hat ebenfalls eine Lektion in Staatsführung nötig.
KoÅciuszko ist ein Aufrührer, schlimmer als Pugatschow und seine kosakischen Rebellen es jemals waren. Wenn sie ihn nicht in die Schranken verwiesen hätte, hätte ihr eine zweite Fran
zösische Revolution ins Haus gestanden. Adlige, die an den Laternen baumeln. Eine Guillotine in Warschau. Leibeigene, die ihren Herren die Kehle durchschneiden.
KoÅciuszko wecke im Ausland Emotionen, antirussische Gefühle. Empörung und scheinheilige Proteste müssten unbedingt verhindert werden. Aber einige Beschwerden lieÃen sich abschmettern, neutralisieren, sogar in einen Vorteil verwandeln. Sie ist immer noch wütend auf den rebellischen General, aber sie wird ihn mit Samthandschuhen anfassen. »Wie du zweifellos verstehen wirst, Konstantin«, sagt sie.
Ihr Enkel nickt, erfreut dass sie ihn ins Vertrauen zieht.
»Der äuÃere Anschein ist wichtig«, erinnert sie ihn. Sie möchte nicht wegen Perfidie und Grausamkeit angeklagt werden. Vor allem möchte sie nicht, dass KoÅciuszko ein Held wird, möchte ihm nicht die Möglichkeit bieten, in einem russischen Gefängnis zum Märtyrer zu werden. Der Marmorpalast werde der geeignete Ort für ihn sein. Er wird in den Genuss groÃer Annehmlichkeiten kommen und trotzdem aus dem Fenster die Festung sehen. Ein Anblick, der ihn an
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