Die Zarin der Nacht
zittern. In den Fingerspitzen ihrer rechten Hand kribbelt es leicht.
Sie zwingt sich, tief durchzuatmen. Dann noch einmal.
Es ist nichts, denkt sie. Es wird weggehen.
Das tut es.
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Noch will sie ihren Augen nicht trauen. Hat Besborodko da gerade seinen Aktenordner geöffnet? Einen Bogen Papier herausgenommen? Könnte es etwa sein, dass die Zeit seinem unfehlbaren Gedächtnis eine Wunde geschlagen hat?
Sie will schon einen Scherz darüber machen, aber etwas in seiner Miene hält sie davon ab.
»Diese Seiten hat man unter einer Diele in Prinz Adams Zimmer gefunden«, sagt Besborodko, »Ich würde sie Ihrer Majestät gerne in ganzer Länge vorlesen.«
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Es hat in unseren bisherigen Gesprächen Momente gegeben, in denen der GroÃfürst mitten im Satz innehielt und zögerte, als würde er gern etwas sagen, es sich dann aber anders überlegte. Es hat Hinweise gegeben: »Man vertraut uns nicht immer, mein lieber Adam ⦠wir werden zu Dingen gedrängt, die wir eigentlich nicht wollen.« Einmal, als wir beide uns bei Wissenslücken über einige Grundprinzipien der amerikanischen Staatsform ertappten, rief er: »Wenn doch La Harpe hier wäre, dann könnte er uns all das beibringen! Er verstand es, ein junges Hirn zu begeistern! Ohne ihn sind wir blind wie die Maulwürfe!« Mit Tränen in den Augen gestand der GroÃfürst mir, wie sehr
er seinen Schweizer Erzieher vermisse. Bei einer anderen Gelegenheit, als wir den Possen der Kängurus im Taurischen Garten zusahen, äuÃerte der GroÃfürst den Wunsch, sich ein kleines Landgut zu kaufen, irgendwo in der Schweiz, wo er mit seiner Frau gern als Privatmann leben und seinen Garten bestellen würde. »Denn ich habe beschlossen, mich in Zukunft von meiner Last zu befreien«, erklärte er.
â Damals sagte ich nichts dazu.
â Brennende Hoffnung ist nicht der beste Ratgeber. Meine Landsleute haben diese schmerzliche Lektion sehr gut gelernt.
â Gestern nun wollte der GroÃfürst mich gern allein sehen. »Lass uns an einem so herrlichen Tag nicht drinnen sitzen«, sagte er, als ich sein Zimmer betrat, und schlug einen Spaziergang in den Gärten vor.
â In raschem Tempo durchschritten wir den Park, der zwar recht klein, aber im englischen Stil klug entworfen ist â mit verschlungenen Pfaden, dichtem Gehölz und überraschenden Durchblicken. Als wir nicht mehr in Reichweite des Palasts waren, wurde seine Stimme zu einem eindringlichen Flüstern. »Bitte bleib nicht stehen, ganz gleich, was ich jetzt zu dir sage. Bitte geh im selben Tempo weiter, ohne mich häufiger als sonst anzublicken.«
â Ich nickte zustimmend.
â »Ich warte schon eine ganze Weile auf den Augenblick, in dem ich dir meine wahren Gedanken offenbaren kann«, sagte er. »Ich möchte nicht, dass du mich mit denen gleichsetzt, die mich umgeben. Ich fühle mich nicht in Ãbereinstimmung mit diesem Hof.«
â Ich behielt mein Tempo bei. Ich blickte ihn nicht an.
â »Ich halte es für grausam und falsch, sich etwas anzueignen, was uns nicht gehört. Zusehen zu müssen, wie Gier sich als Politik tarnt, wie schamlose Schmeichler Besitztü
mer erhalten, die viel wertvolleren Menschen nur deshalb geraubt wurden, weil sie es wagten, sich der Zerstörung ihres Vaterlands zu widersetzen!
â Ich habe durchaus bemerkt, wie vorsichtig du im Umgang mit mir bist, dass du nicht wagst, die Worte auszusprechen, die in deinem Herzen sind. Das musst du nicht.
â Ich möchte, dass du weiÃt, wie oft meine Wünsche bei KoÅciuszko und seinem Aufstand waren und nicht bei unseren russischen Truppen. Ich möchte dich meiner groÃen Bewunderung für diesen edlen Mann versichern und dir sagen, dass mich seine Niederlage sehr betrübt hat.«
â Er sprach schnell, als hätten wir nur diesen einen Moment in der Welt, in dem all das, was wirklich wichtig ist, gesagt werden muss. Er sprach, und ich konnte nicht glauben, dass die Worte, die ich vernahm, wirklich aus dem Mund eines GroÃfürsten stammten, der eines Tages auf dem russischen Thron sitzen wird.
â »Wie oft wünschte ich mir, ich könnte mich in KoÅciuszkos Gefängniszelle schleichen! Ihm die Hand schütteln und meine Bewunderung aussprechen, Bewunderung für seinen Mut, sich gegen die Tyrannei aufzulehnen. Ihm versichern, dass ich mit
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