Die Zarin der Nacht
Zeit ist verloren. Jetzt geht es darum, Schaden zu beheben. Drastische MaÃnahmen müssen wohl in Betracht gezogen werden.
»Wie drastisch?«, fragt sie.
»Es ist noch zu früh für eine Entscheidung, Hoheit.«
»Wie drastisch?«, wiederholt sie verärgert. Warum wollen die Leute ihr nur immer die Wahrheit vorenthalten?
»Ich muss vielleicht einen Zeh amputieren, Madame«, antwortet Rogerson. »Aber nur, wenn es nicht besser wird«, fügt er hastig hinzu.
Das Wort Amputation ist ein grässliches Wort. Es beschwört das Bild von der Säge des Chirurgen herauf, die durch lebendigen Knochen geht. Von Muskeln, die mit dem Skalpell aufgeschlitzt werden. Venen, die abgebunden und verödet werden. Von sengendem Schmerz und einer Fontäne aus Blut. Soldaten, die ihre Glieder im Krieg verlieren, sind jung und stark, aber selbst Valerian, der sein Holzbein wie eine Auszeichnung trägt, wacht nachts schreiend auf.
Der Doktor vermeidet es, der Kaiserin direkte Vorwürfe zu machen, aber er kann nicht umhin, die Lambro-Cazzoni-Kur als das darzustellen, was sie ist. Schwindel. Unbewiesenes Wunschdenken. Ein Triumph der Einbildung über Wissen und Erfahrung.
Ein Quacksalber, will er damit sagen, bleibt eben ein Quacksalber.
Sie lässt ihren Arzt seine Lektion vortragen, während aus ihrer Furcht Verbitterung wird. Rogerson beansprucht eine derartige Autorität für sich, er benutzt lateinische Begriffe und
ausgefallene Wörter, aber all das hilft wenig, wenn man krank ist. Unter seiner Obhut ging es ihren Beinen kein bisschen besser.
»Vielleicht muss es ja gar nicht so weit kommen, Majestät«, fährt Rogerson fort. »Es hat keinen Sinn, sich vor etwas zu fürchten, was noch nicht ansteht.«
Sie wird wieder zur Ader gelassen werden, und auch ihr Körper muss weiter entschlackt werden. Die Geschwüre müssen verätzt werden. AuÃerdem wird sie jeden Morgen fünf Gran James'sches Pulver zusammen mit zwei Gran Kalomel einnehmen müssen.
»James'sches Pulver?«, fragt sie. »Sagen Sie nicht immer, es helfe bei Fieber?«
»Und bei rheumatischen Beschwerden«, erklärt Rogerson mit fester, siegessicherer Stimme. »Es enthält Antimonium, Madame, das bekanntlich gegen entzündetes Gewebe hilft.«
Sie nickt resigniert. Das Gespenst einer Amputation reicht, um sie umzustimmen und bereit für Rogersons Behandlung zu machen. Wischka wird den Auftrag erhalten, Lambro-Cazzoni mitzuteilen, er solle morgens nicht mehr erscheinen. Ein passendes Geschenk wird die Enttäuschung des Admirals mildern. Etwas, das er bei Hofe vorführen, womit er andere beeindrucken kann. Eine edelsteinbesetzte Schnupftabaksdose mit einem passenden Seestück? Der Sieg bei ÃeÅme wäre wohl am geeignetsten. Mindestens zwei Dutzend von der letzten Lieferung müssten noch da sein.
»Laufen Sie so wenig wie möglich, Madame«, rät er. »Wir wollen keinen unnötigen Druck auf Knochen und Bändern. Und am besten grübeln Sie nicht allzu viel über den Auslöser der Verschlimmerung nach. Der Kopf ist ein Heiler, aber er kann den Krankheitsherd auch reizen. Entscheidend ist ein heiterer Sinn. Ablenkungen helfen.«
Von Wischka hat sie gehört, dass Rogerson den von seinem Cousin vorgeschlagenen Kauf eines englischen Landsitzes ab
gelehnt hat, da er nicht ansehnlich genug sei. In Russland, hat er geschrieben, habe ich gelernt, nach Höherem zu streben. Sein Reichtum stammt übrigens nicht nur von seinen deftigen Honoraren, sondern auch vom Verkauf seiner Wässerchen.
»Gräfin Bezkoy hat Sankt Petersburg verlassen. Sie wird nicht am Debütantinnenball ihrer Tochter teilnehmen«, bemerkt er, während er seine Instrumente zusammensammelt.
Ihre stramm verbundenen Beine wirken lebloser denn je. Ihre Lippen sind ausgedörrt, trotz all des Wassers, das sie getrunken hat. Was hat sie mit Gräfin Bezkoy zu schaffen?
»Ihr Kropf ist in den letzten Monaten stark gewachsen. Er ist jetzt so groÃ, dass er sich nicht mehr mit Rüschen und Schultertüchern verbergen lässt«, sagt Rogerson, während er sich verbeugt. »Die Gräfin hat beschlossen, ihr Anblick könne die Aussichten ihrer Tochter auf eine gute Heirat gefährden.«
Sie sagt nichts.
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Im reich verzierten Morgenrock und umweht vom erdigen Holzgeruch teuren Moschusparfüms, tritt Le Noiraud ein. Er bringt ihr einen
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