Die Zarin der Nacht
auch eine der Mägde, die mir zeigte, dass Mama in einen alten Strumpf eingewickelte Silberlöffel unter ihrem Kissen versteckt hielt.
â Es gab noch viele weitere solcher betrüblichen Vorfälle, und als Mama einmal von einem Spaziergang zurückkam und berichtete, sie sei von frechen Bengeln verfolgt worden, die sie geschmäht hätten, weil sie Russisch mit ihnen redete, nahm ich meine Mutter zu mir in mein Haus. Der Umzug verwirrte sie anfangs sehr. Sie konnte sich nicht an ihre neue Umgebung gewöhnen und verirrte sich wiederholt auf dem Weg von ihrem Schlafzimmer in den Salon. Oder sie fragte mich, was mit der Dienstbotentür in ihrem Zimmer geschehen sei, und als ich erklärte, wir hätten noch nie Dienstbotentüren gehabt, machte sie ein seltsames Gesicht und zwinkerte mir zu. Dann fing sie an, nachts im Haus und in den AuÃengebäuden herumzuwandern. Einmal fand ein Dienstmädchen sie mit einer schlafenden Scheunenkatze im SchoÃ. »Ich habe die Katze der Kaiserin gefunden«, sagte sie.
â Meine ältere Tochter, die damals vierzehn war, kam eines Tages zu mir und sagte, GroÃmama nenne sie Katharina. »Aber ich bin Barbara«, habe sie gesagt. Mama habe sie angeblickt, als hätte sie den Verstand verloren. »Nein, das bist du nicht«, habe sie ziemlich verärgert gesagt.
â Diese Unterhaltung wiederholte sich mehrere Male, und da Proteste Mama nur noch mehr durcheinanderbrachten,
sagte ich meiner Tochter, sie solle nicht mehr widersprechen. Noch Wochen später zog Mama meine Tochter immer wieder in ihr Zimmer, offensichtlich um ihr etwas mitzuteilen. »Geheimnisse«, erklärte sie, aber es waren alles Warnungen. Jemand versuche sie zu verletzen, sie müsse vorsichtig sein, sie müsse alles genau beobachten. »Aber wer will mir denn wehtun, GroÃmama?«, fragte meine Tochter. »Sie«, pflegte meine Mutter dann zu flüstern. »Sie« lauschten an der Tür. »Sie« beobachteten sie beide durchs Schlüsselloch. »Sie« wussten alles. »Lauf fort, Katharina!«, rief sie. »Lauf, bevor es zu spät ist. Lauf, bevor sie dir deine Seele stehlen.«
â Es brach mir das Herz, Mama in diesem Zustand zu erleben. Die Ãrzte wussten keinen Rat und schwächten sie nur mit exzessiven Aderlässen. Meine geliebte Mutter â und ich zucke auch jetzt noch zusammen, wenn ich die Worte niederschreibe â verlor mit rasender Geschwindigkeit ihren Verstand. Bald schon erkannte sie meinen Ehemann, meine Kinder und mich nicht mehr. Sie redete mit sich selbst, hielt endlose Monologe auf Russisch, in denen ich Einzelnes verstehen konnte â Fetzen aus verzweifelten Gesprächen mit den Geistern, die ihren verwirrten Verstand bedrängten. »Geht zu ihr, bitte. Sie ist allein. Sie leidet. Sagt ihr, ich habe sie nicht verlassen. Sagt ihr, ich komme.«
â Am Ende war es die Angst, die sie tötete. Sie lächelte mich immer noch strahlend an, wenn ich morgens ihr Zimmer betrat. Sie lieà mich sie waschen und anziehen, aber danach wurde sie schnell unruhig, zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Wenn sie in ihrem Zimmer war, wollte sie nach drauÃen. Wenn sie auf der StraÃe war, hielt sie Dienstboten an und wollte nach Hause gebracht werden. Einmal hörte ich sie ganz entsetzlich in ihrem Zimmer schreien. Als ich zu ihr eilte, saà sie schluchzend da und wiegte ein
kleines Kissen, als wäre es ein neugeborener Säugling. Und bei einem dieser Anfälle holte sie sich das Fieber, das sie dann dahinraffte.
â In gewisser Weise bin ich froh, dass Mama nichts mehr von den tragischen Ereignissen des letzten Jahres erfahren hat. Sie wusste nichts von dem gescheiterten Aufstand und der endgültigen Teilung. Aber Majestät haben tiefergehende Kenntnis über diese traurigen Ereignisse als ich, weshalb ich mich auf den eigentlichen Grund meines Briefs beschränken werde.
â Als der Herr in seiner Barmherzigkeit Mama zu sich genommen hatte, fuhr ich zurück nach Krakau, um ihr Haus auszuräumen. Unter ihrem Bett stand eine alte Zedernholztruhe, die ich noch aus Sankt Petersburg kannte. Viele Dinge hatte ich erwartet dort zu finden. Das alte weiÃe Musselinkleid, das einst meiner GroÃmutter gehört hatte und sich jetzt an den Säumen auflöste. Einen Bernstein mit zwei eingeschlossenen Bienen. Die mit einer Schleife zusammengebundenen Briefe meines
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