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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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Verbesserungen, Vorschläge, weitere Nachforschungen. Kleine Pfeile stehen an den Rändern, ihre Kommentare werden länger, ausgefeilter. Ihre Finger haben Tintenflecke. Sie hat ein ganzes Bündel Federkiele verbraucht.
    Mutmaßungen sind von Fakten zu unterscheiden. Es muss
über Vor- und Nachteile Buch geführt werden. Auch das wartet auf Alexander, der seinen jugendlichen Enthusiasmus für Rebellion überwinden muss. Sollte sie ihn jetzt schon in diese schwierige Pflicht einführen? Mit einer ganz einfachen Aufgabe?
    Mit einem Grodno-Bericht, einem konfiszierten Brief. Adressiert an seine Majestät, Stanislaw August, König von Polen.
    Für Ihre Majestät persönlich.
    Die Handschrift ist zwar klar und deutlich, aber die Buchstaben sind sehr klein und machen das Lesen mühsam.
    Â 
    Ich hoffe, dieser Brief findet Ihre Majestät, trotz der widrigen Umstände und der Unsicherheit während der tragischen letzten Monate, bei guter Gesundheit vor. Es handelt sich eigentlich um eine Entschuldigung, wie Majestät zu gegebener Zeit feststellen werden, doch bevor ich den Grund für diesen Akt der Zerknirschung enthülle, muss ich die Umstände beschreiben, die ihm vorausgehen.
    â€ƒ Mein Name ist Darja, Warwara Nikolajewnas Tochter. Ich hoffe, Majestät erinnern sich noch an uns, denn ich denke noch gern an jene Tage, die mir heute beinahe wie ein wunderschöner Traum vorkommen.
    â€ƒ Als meine eigenen Töchter noch klein waren, bettelten sie häufig um Geschichten aus der Zeit, als ich mit Großfürst Paul in den Fluren des Winterpalasts spielte. Sie vernahmen mit Staunen, dass ich die russische Kaiserin so aus der Nähe sah wie meine Töchter mich. Dass ich einmal auf ihrem Schoß saß und ihren Geschichten lauschte. Aber ich habe schon seit vielen Jahren nicht mehr von dieser Zeit gesprochen. Angesichts der Umstände, unter denen wir leben, sind diese Erinnerungen nicht mehr willkommen.
    â€ƒ Meine geliebte Maman ist in Frieden gestorben, fast auf den Tag genau zwei Jahre später als mein Stiefvater. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke, aber ich ver
suche sie so in Erinnerung zu behalten, wie sie immer gewesen ist, nicht wie in den letzten Monaten ihres Lebens.
    â€ƒ Majestät werden mit Freude hören, dass das Leben meiner Mutter hier glücklich gewesen ist. Zusammen mit meinem Stiefvater führte sie einen florierenden kleinen Buchladen in Krakau. Die beiden waren einander sehr zugetan, und Mama sprach nie über unsere Jahre in Sankt Petersburg. Selbst mir erschien es häufig unvorstellbar, dass die Frau eines Buchhändlers, in ihrer schlichten grauen Kleidung und den praktischen Schuhen, einst Gräfin Malikina gewesen sein soll.
    â€ƒ Erst kurz nach dem Begräbnis meines Stiefvaters bemerkte ich eine eigenartige Veränderung an ihr. Sie konnte, zum Beispiel, mit mir über meine Töchter reden, und gleichzeitig wanderten ihre Augen unruhig umher, als interessierte sie das Thema gar nicht. Dann eilte sie mit einem Mal in ein anderes Zimmer und begann, in den Schubladen zu wühlen. »Ich habe vergessen, wo ich meine Brille hingelegt habe«, sagte sie zur Erklärung. Oder: »Ich wollte mich nur vergewissern, dass ich meinen Schlüssel nicht verloren habe.« Ich half ihr dann beim Suchen der Gegenstände, aber das beruhigte sie nur kurz, und schon bald hastete sie wieder davon.
    â€ƒ Ich hielt diese Rastlosigkeit für eine Folge der Trauer, nachdem sie einen Ehemann verloren hatte, der ihr ein wahrer Freund gewesen war, und ich hoffte, dass sie mit der Zeit und mit Gottes Hilfe Trost bei mir und meiner Familie finden würde. Aber sie weigerte sich, mich zu begleiten, und ich verließ Krakau mit dem Versprechen, sie bald wieder zu besuchen. Als ich das einen Monat später tat, nahm sie mich beiseite und erklärte mir flüsternd, ihre Dienstboten würden sie bestehlen.
    â€ƒ »Was fehlt?«, fragte ich, aber sie starrte mich nur argwöhnisch an.
    â€ƒ »Warum willst du das wissen?«, fragte sie.
    â€ƒ »Ich möchte dir beim Wiederfinden helfen«, entgegnete ich.
    â€ƒ »Das sagen sie alle«, erklärte sie. »Aber ich bin nicht so töricht, ihnen zu glauben.«
    â€ƒ Die Dienstboten schworen, niemals Dinge anzurühren, die sie nicht anrühren sollten, und da ich wusste, wie ergeben sie meiner Mutter waren, glaubte ich ihnen. Es war dann

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