Die Zarin der Nacht
sich in den Baumkronen und auf den Zäunen, zwitschern geschwätzig, bevor sie fortfliegen in wärmere Länder.
»Vorsicht, Hoheit«, murmelt die Hebamme, die Katharina hereinführt. Die GroÃfürstin hat manchmal Schwierigkeiten, mit ihrem dicken Bauch das Gleichgewicht zu halten. Sie ist
in letzter Zeit einige Male selbst auf ebenem Boden gestolpert.
Die Hebamme â auch sie eine Spionin der Kaiserin â hat Katharina die ganze Schwangerschaft hindurch überwacht und mit ihren Warnungen und Ratschlägen geplagt: »Keine Halsketten, Hoheit, keine Perlen ⦠Sie dürfen nie die Hand über Kopfhöhe heben ⦠nicht mit gekreuzten Beinen sitzen â¦Â«
All die Monate lang hat die GroÃfürstin sich ihren Vorschriften gefügt, und das Kind in ihr ist immer gröÃer und lebhafter geworden. Jetzt, da ihr Schoà seine kostbare Frucht in die Welt entlassen soll, ist ihr Haar gekämmt und unter einer Spitzenhaube verborgen. Ihre Haut glänzt von dem Gänseschmalz, mit dem man sie eingerieben hat. In ihren Därmen rumort es von all dem Rhabarber und den Dörrpflaumen, die sie essen musste. Nur ihre zitternden Hände verraten ihre Angst. In ihrem Kopf hallte Mamans Stimme nach: Du hast mich bei deiner Geburt beinahe umgebracht, Sophie. Du hast mich zerrissen wie einen Sack.
»Es dauert nicht lang, Sie werden sehen.« Die Hebamme will sie beruhigen, wenn nötig, auch mit Lügen. Die Angst einer Mutter ist gefährlich für das Kind in ihrem Leib. So entstehen Missbildungen.
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Nach nunmehr neun Jahren in Russland hat die GroÃfürstin, die Gemahlin des Kronprinzen, Schmerz und Angst, Demütigung und Einsamkeit kennengelernt und endlose Stunden öder Langeweile durchlebt. Sie weiÃ, wie es ist, wenn man keine Aussicht hat, dass sich jemals etwas ändern wird. Wenn alle Fluchtwege versperrt sind, wenn man glaubt, dass nie ein Lichtstrahl in den Kerker, in dem man gefangen ist, dringen wird.
Sie kennt auch die Liebe. Liebe, die sie beim ersten Tageslicht aufwachen lässt mit dem Namen des Geliebten auf den Lippen. Die sie hungern macht nach seiner Umarmung, seiner Stimme. Die sie dazu bringt, sich kühnen Phantasien von aben
teuerlicher Flucht hinzugeben. Im Geist sieht sie Sergej durchs Fenster hereinklettern. Der Hebamme sagt er, sie solle ja keinen Mucks machen, wenn ihr das Leben lieb sei. »Komm, Katharina«, flüstert er und breitet die Arme aus. »Ich bringe dich weg von hier.« Er hat sich mit Mandelöl parfümiert, dessen Duft den widrigen Kneipengestank überdeckt, der in seinen Kleidern hängt. Seine Schönheit raubt ihr den Atem â dieses wilde schwarze Haar, diese schimmernden Augen! Vor dem Tor zum Sommergarten wartet eine Kutsche. Schnell wie der Wind fahren sie zur Stadt hinaus und gelangen an einen sicheren Ort, wo treue Diener sie erwarten.
»Diese Liebe ist nicht gut«, sagt Warwara, die auch ihre Geheimnisse hat. »Erinnern Sie sich an Sergej Saltykows Frau?«
Doch wieso über Dinge nachgrübeln, die nicht länger von Bedeutung sind? Katharina schlieÃt die Augen, die vom Rauch der Kerzen brennen, und genieÃt weiter ihren Tagtraum. Ein loderndes Feuer im Kamin, einfache Dielenböden, an den Dachbalken hängen Büschel getrockneter Kräuter. Es riecht nach Fischsuppe. Frisches weiÃes Leinen auf einem schlichten Bett aus Eisen. Der Mann, der sie beschützt und umsorgt, legt seine Arme um sie. Er küsst sie und ihr gemeinsames neugeborenes Kind, dessen leises Quäken sie vor Zärtlichkeit dahinschmelzen lässt.
»Vorsicht, Hoheit. Hier entlang«, sagt die Hebamme.
Eine Matratze liegt auf dem FuÃboden. »Rosshaar.« Die Hebamme schnalzt mit der Zunge. Sie benimmt sich wie ein Händler, der einem zögernden Kunden seine Ware schmackhaft machen will. »Das Beste, was man kriegen kann. Wird nie feucht und schreckt Ungeziefer ab.«
Schwaden von Rosmarin- und Lavendelduft ziehen vorbei, dazwischen der eines schweren Parfüms. War die Kaiserin hier im Raum? Die Kaiserin, die sie vor dem ganzen Hofstaat gesegnet und ihr dann ins Ohr geflüstert hat: »Mach schnell, Katharina. Ich will nicht die ganze Nacht lang warten.«
Wie stellt man es an, dass es schnell geht?
Ihr Blick streift über den Tisch am Fenster. In einem Weidenkorb liegen frische Windeln, Handtücher, Bettwäsche. Schön weich und
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