Die Zarin der Nacht
erlauscht und beobachtet haben. Ihre Geschichten sind kostbarer als Edelsteine. Sie sagen ihr, von wem sie sich fernhalten und wen sie bestechen muss. Wer in dem Klatschzirkel, der allabendlich im kaiserlichen Schlafzimmer stattfindet, mit seinen Verleumdungen das groÃe Wort führt. Wer dankbar wäre für ein freundliches Wort, ein diskretes Darlehen, eine geflüsterte Warnung.
Wissen ist Macht. Das hat sie schon immer gewusst. Schon in Zerbst.
Von ihren Spionen immer wohl informiert, kann sie alle Fallen umgehen und sich auf gefährlichem Terrain sicher bewegen. Die Summen, mit denen sie Leute schmiert, sind nicht zu hoch und nicht zu niedrig bemessen. Sie weià genau, welche Art von Belohnung für welche Person passt, sodass sie sich freut und nicht enttäuscht ist. Sie erkennt auch Gefahren, die anderen drohen, und spricht Warnungen aus, was ihr Dankbarkeit einbringt und Verbindlichkeiten schafft, die sich eines Tages als wertvoll erweisen können.
Zu erfahren, was geheim bleiben sollte, bedeutet Macht. Die Motive der Leute zu verstehen, die gegen einen intrigieren. Zu wissen, wie man sie auf seine Seite ziehen kann.
Eine Hofdame, die alles, was du sagst und tust, der Kaiserin berichtet, kannst du als Verbündete gewinnen, wenn du ihr einen Rubinring schenkst und ihr ewige Dankbarkeit versprichst. Eine Fürstin, deren Familie dich hasst, ist vielleicht für deinen Charme empfänglich. Besuche sie und trage ihr deine Freundschaft an. Ein Mädchen, das du dabei ertappst, wie es in deinen Schubladen wühlt, wird dir vielleicht gestehen, dass man ihm einen neuen Spitzenkragen versprochen oder damit gedroht hat, irgendeine Sünde aufzudecken, die es begangen hat; es genügt schon, wenn sie ein Stückchen Besatzband eingesteckt oder eine Tasse zerbrochen hat.
Aber die besten Spione sind nicht die, die man mit Geld oder Erpressung gewinnt. Die besten Spione sind die, die an dich glauben, die in dir die Erfüllung all ihrer Träume sehen. Die hoffen, dass du sie vor ihren eigenen Ãngsten rettest. Die wollen, dass du nach der Krone Russlands greifst.
In den dunkelsten Stunden vor der Morgendämmerung, berichtet Warwara Nikolajewna, wird das kaiserliche Schlafzimmer mit Wachskerzen hell beleuchtet. Die Zofen putzen ständig die Dochte, denn ruÃende Flammen bringen Unglück. Die Kaiserin ist abergläubisch: Wenn ein Käuzchen ruft, werden Diener mit Gewehren ausgeschickt, um den Vogel zu verscheuchen. Auch Raben werden auf dem Gelände des Palasts nicht geduldet.
Die Kaiserin von Russland fürchtet sich vor der Dunkelheit. Und vor dem Dolch eines Attentäters. Und vor dem Fürsten der Finsternis, der in vielen Gestalten erscheinen kann. Und vor einer dreiundzwanzigjährigen GroÃherzogin, die sie aus der Kulisse beobachtet und ihre keuchenden Atemzüge zählt.
»Sie wissen, was sie von Ihnen will«, flüstert Warwara Nikolajewna.
Sobald der aktuelle junge Liebhaber der Kaiserin das Schlafzimmer verlassen hat, fällt Elisabeth auf die Knie und bittet die Jungfrau von Kasan um Vergebung ihrer Sünden. Und wenn sie dann, betrunken von Kirschlikör und Lust, das göttliche Kind auf dem Arm der Madonna betrachtet, gerät sie in Zorn. »Warum kann dieser Schwächling ihr kein Kind machen?«, lallt sie. Schwer atmend ballt sie die Fäuste. »Und warum kapiert diese dumme deutsche Hausfrau immer noch nicht, was zu tun ist?«
*
Ein zugiger Raum im Sommerpalast, beleuchtet wie eine Bühne. Ãberall Kerzen, auf den Fensterbrettern und Tischen, auf einem Brett, das von der Decke hängt. Dicke Wachskerzen, die die ganze Nacht brennen werden, wenn es sein muss. Die Jungfrau von Kasan in der Ecke blickt erbarmungsvoll auf die GroÃfürstin Katharina, die nach neun unfruchtbaren Jahren Kaiserin Elisabeth endlich den ersehnten Erben schenken wird.
Im Garten Gebell, Knurren, ein jämmerliches Heulen. Die Wachhunde jagen streunende Katzen über die mit Kies bestreuten Wege. »Schütte einen Eimer Wasser über das verdammte Hundevieh!«, schreit jemand.
Es ist September. Die Zeit, in der die Kaiserin, die von sich sagt, tief im Herzen sei sie immer ein einfaches Mädchen vom Land geblieben, gern von der überreichen Ernte dieses Jahres sprechen hört. In den Scheunen türmt sich hoch das duftende Heu. Die Kühe sind fett von der Sommerweide, ihre Euter prall von warmer Milch. Zugvögel sammeln
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