Die Zarin der Nacht
Kind sich langsam vorwärts schiebt ans Licht. Muskeln und Haut zum ZerreiÃen gespannt. Brennend heiÃe Wangen, SchweiÃperlen auf der Stirn. Das Haar strähnig und nass. Ihre Zähne klappern vor Anstrengung und Angst. Die Beine zittern, als hätte sie einen hohen Gipfel bestiegen. Und immer noch kein Ende in Sicht.
Und die ganze Zeit blitzen immer wieder Bilder vor ihr auf. Peter, der künftige Zar, ihr Ehemann, hat gerade eine Ratte zum Tode verurteilt und sagt grinsend: »Was hast du erwartet, Katharina? Dieses Vieh hat meine Zinnsoldaten angeknabbert.« Sergej, der ihrem Blick ausweicht. Er macht einer anderen Frau Avancen, einer, die seinem Charme noch nicht erlegen ist.
Die Hebamme reiÃt sie aus ihren Gedanken. »Pressen, pressen! Weiter pressen. Fester!« Ein Schlag ins Gesicht weckt sie aus dem sanften, dunklen Traum, in den sie zu versinken drohte. » Jetzt, Hoheit! Einmal noch.« Bis etwas Glitschiges zwischen ihren Beinen herausrutscht. Ein blutiges, schleimiges Ding. Ihr Kind. Und dann ein erstickter Schrei, ein leiser Ton, so hell
und klar, dass sie eine Gänsehaut bekommt. Vor Sehnsucht. Vor Liebe.
Tränen steigen ihr in die Augen.
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»Das Küken ist geschlüpft!«
Die Kaiserin, einen blauen Satinumhang um die Schultern, beugt sich über den gewickelten Säugling. Eine groÃe Glucke, »Mein Prinzchen, mein Falke, mein Schätzchen.«
Kostbar, ein Geschenk Gottes.
Die Damen und Herren des Hofs drängen sich um sie. Sie stellen sich auf die Zehenspitzen, recken die Hälse, um besser zu sehen. Gekleidet in Seide, Pelz, Satin. Begierig, den freudigen Moment gebührend auszukosten. Sie haben diesen typischen Palastgeruch mitgebracht, eine Mischung aus Parfüm, Rauch von Kaminfeuern, Kerzenwachs, dazu ganz leicht, aber unverkennbar der Gestank menschlicher Exkremente. Sie haben eine lange Nachtwache hinter sich.
Für kurze Zeit verkneifen sie sich jedes boshafte Wort. Sie staunen mit offenen Mündern, wiegen ehrfürchtig die Köpfe. Ein Prinz ist geboren, der künftige Thronerbe, die Hoffnung Russlands. Jetzt ist die Welt in Ordnung.
An die GroÃfürstin denkt keiner.
Ihr ist es gleichgültig. Sie legt keinen Wert auf geheucheltes Mitgefühl und falsches Lächeln. Raus!, denkt sie. Verschwindet!
Katharina liegt auf der Matratze mit dem zerknitterten, zerrissenen, blutbefleckten Laken. Erschöpft und wund und leer. In diesem zugigen Raum im Sommerpalast, wo sie nun wie in einem Traum ihren Bruder sieht, der jetzt schon lange tot ist. Er zeigt mit seinem dünnen Finger auf sie und schreit: »Maman! Sophie ist gemein zu mir. Sie schneidet Grimassen!«
Sophie, das ungezogene Kind, das nicht auf die Mutter hören will und die Hand aus dem Grab streckt. Sophie, deren Haut krätzig ist und die ein Korsett tragen muss, weil ihre Knochen krumm wachsen.
Dann eine sanfte Stimme: »Sie sind am Leben, Hoheit. Sie haben einen Sohn. Ich bin hier.«
Es ist Warwara, ihre Spionin. Sie trägt eine gestärkte weiÃe Haube und sieht aus wie eine Nonne. Sie redet unablässig, als hätte sie Angst, etwas Schreckliches würde passieren, wenn sie einen Moment lang schwiege. »Als meine Darenka auf die Welt kam ⦠als die Hebamme ging ⦠als das Fieber endlich nachlieà⦠die ersten Wochen sind am schlimmsten â¦Â«
Sie meint es gut. Ihre Hände sind weich und sanft. Sie wischt Schweià und Blut ab, überzieht das Bett frisch, bringt ein Glas Himbeerkwass. Wenn nur ihre Stimme verstummte, die Katharina umfängt und in sie eindringt, die Bilder beschwört, die sie nicht gebrauchen kann. Von einer glücklichen jungen Mutter in einem gesteppten Morgenmantel, die FüÃe in pelzgefütterten Pantoffeln. In einem Schaukelstuhl. Ihr Baby in den Armen. Wie sie die seidigen Wangen ihrer kleinen Tochter küsst.
»Wo hat sie ihn hingebracht, Warwara?«
»In ihr Schlafzimmer. Er hat es gut dort. Sein Name ist Paul. Paul Petrowitsch.«
»Wie sieht er aus?«
Was Warwara sagt, ist vage und banal und hilft nicht viel. Paul ist schön, weil er schöne Fingerchen hat und hübsche wuschelige Haare. Er ist schön, weil er so schön lächelt. »Weinen Sie nicht, bitte«, sagt Warwara. »Es ist vorbei.«
Es ist noch nicht alles vorbei. Es ist nicht gut. Es wird nie gut sein. Weit weg von ihr schreit ein Kind und sucht vergeblich ihre Brust.
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