Die Zarin der Nacht
keines seine Aufmerksamkeit länger als ein paar Sekunden zu fesseln vermag.
Was kann sie ihm mitbringen, das er nicht bereits hat? Einen Strauà Wiesenblumen? Einen Tannenzapfen? Eine Handvoll glänzender Kastanien?
»Schau! Willst du sie nicht mal anfassen? Sie fühlen sich wunderbar glatt an.«
Paul schüttelt den Kopf oder hält sich die Augen zu. Oder er vergräbt sein Gesicht in der Schürze seines Kindermädchens.
Was haben sie ihm erzählt? Dass seine Maman eine Hexe ist? Eine Baba Jaga, die Kinder mästet, um sie aufzufressen, sobald sie schön fett geworden sind? Spuckt er darum das Aprikosenkompott wieder aus?
»Ich weià nicht, was die Ammen ihm erzählen«, sagt Warwara. Sie blickt zu Boden, denn sie weià es sehr wohl, aber sie hat sich vorgenommen, ein Schutzengel zu sein und alles Böse von der GroÃfürstin fernzuhalten.
»Kannst du es nicht herausfinden?«
Ein flehender Ton hilft manchmal. Oder ein paar Tränen. Aber wenn Warwara schlimme Geheimnisse preisgibt, achtet sie immer darauf, sie in die Watte der Hoffnung zu packen. Kindheitsängste vergehen. Kinder vergessen schnell. Kinder verändern sich. Die Liebe einer Mutter gewinnt am Ende immer die Oberhand.
Alles nur Märchen. Sie gehen immer gut aus, aber kein vernünftiger Mensch kann das glauben. Darum erzählt man sie nicht nur einmal, sondern immer wieder. Sie werden ständig wiederholt wie Gebete. Wie Wünsche. Eine Mutter, der es ver
gönnt ist, ihr Kind in ihren Armen zu halten, wird nie begreifen, wie es ist, wenn man zusehen muss, wie der eigene Sohn sich in einen Fremden verwandelt.
Es gibt so viele Fragen, die der GroÃfürstin verboten sind. Isst mein Sohn gut? Wacht er nachts manchmal auf? Weint er viel? Warum ist er so schreckhaft? Sie darf der Kaiserin nicht das Gefühl geben, dass sie ihr nicht vertraut. »Mein Sohn ist in den besten Händen«, soll sie sagen. »Niemand auf der ganzen Welt kann besser für ihn sorgen als Ihre Majestät.«
Und dazu soll sie lächeln. Strahlend vor Zuversicht und Vertrauen und Dankbarkeit.
Sie hört auf diese Ermahnungen. Sie hat keine Wahl. Alleine überlebt man nicht. Man muss dem Glück nachhelfen. Der Kaiserin geht es nicht gut. Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist der entscheidende Moment da.
Die Freunde der GroÃfürstin halten sie auf dem Laufenden. Sie schleichen sich zu ihr, niemand sieht sie kommen und gehen. Ein leises Kratzen an der Tür oder das Miauen einer Katze kündigt sie an. Ein rotes Taschentuch unter Katharinas Kissen. Jemand tupft ihr im Russischen Theater auf die Schulter und steckt ihr einen Zettel zu. Sie erfährt es rechtzeitig, wenn Ihre Majestät sich entschlieÃt, ihr einen Ãberraschungsbesuch abzustatten. Dann trifft die Kaiserin sie nicht bei der Lektüre verbotener Bücher an, sondern auf den Knien im Gebet versunken.
Ohne ihre Freunde wäre sie verloren.
Lew Naryschkin tröstet sie: »Nicht alle Männer sind wie Sergej.« Er ersinnt Mittel und Wege, damit sie hin und wieder dem Palast für ein paar vergnügliche Stunden in Freiheit entkommen kann. Katja Daschkowa weiÃ, was die Schuwalows Peter erzählen. Warwara Nikolajewna berichtet, dass die Offiziere der Garde hinter Peters Rücken über ihn lachen: Die Holsteiner Uniform, die er trägt, ist so eng geschnitten, dass er nur kleine Trippelschrittchen machen kann â wie ein kleiner Junge,
der dringend pinkeln muss, sagen sie. Und sie meinen, dass er seinem Vorbild Friedrich von PreuÃen so ähnlich ist wie ein Orang Utan einem Menschen.
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Nicht alle Männer sind wie Sergej, sagt sie sich in Gedanken wieder und wieder.
Stanislaw, ihr Liebhaber und Geliebter, ist wie sie fremd an diesem Hof. Er kommt aus Polen und reist, um sich zu bilden, aber er hat, wie er gesteht, in den Weiten Russlands alle Orientierung verloren, vollkommen überwältigt von einem Glück, das seine kühnsten Vorstellungen weit übersteigt.
In der dunklen Winternacht, die da und dort von StraÃenlaternen erhellt wird, bekommt Katharina eine Gänsehaut bei diesen Worten.
Auf dieser Schlittenfahrt schmiegen sie sich unter Fuchspelzen eng aneinander. Sie spüren den Frost nicht, der ihnen in die Wangen sticht. Ihre Gerüche vermengen sich zu einer berauschenden Mischung von Parfüm und SchweiÃ. Ihre Hände sind tief unter den Fellen vergraben. Als
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