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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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Zorndorf sieht ihr nach. Sie spürt seinen Blick in ihrem Rücken, während sie sich entfernen.
    Sie weiß, dass er morgen wieder auf sie warten wird, und noch viele weitere Tage. Bis sie schließlich irgendwann, zum Äußersten getrieben durch den Hohn ihres Ehemannes oder die Gleichgültigkeit ihres Sohnes, allein aus dem Palast stürzen und zu ihm sagen wird: »Warum sollte ich Ihnen glauben?«
    *
    Grigori Orlow vertraut der geballten Masse des männlichen Körpers, der Kraft straffer Muskeln und Sehnen. »Box mir in den Bauch, Katinka«, sagt er und lacht. Als sie mit voller Wucht zuschlägt, ist es, als prallte ihre Faust auf eine Ziegelmauer.
    Seine Wangen sind gerötet wie nach einem Ritt auf einem schnellen Pferd. Sein Gebiss ist kräftig und ebenmäßig. Er stellt es gern zur Schau, nicht nur aus Eitelkeit: Ein Soldat braucht gute Zähne, um damit das Papier der Patrone aufzureißen, mit der er seine Muskete lädt. Einmal hat Katharina ihn mit bloßen Händen ein Hufeisen verbiegen sehen.
    Â 
    Wolkow bojatsa – w les ne chodit. Wenn du Angst vor Wölfen hast, geh nicht in den Wald.
    Â 
    Â»Nicht alle Brüder sind so wie deiner«, sagt Grigori, als sie Wilhelms ständige Sticheleien in ihrer Kindheit erwähnt. Grigori redet nicht viel. Man muss die Geschichten aus ihm heraus
locken, geduldig, wie man eine Nuss aus einer schwarzen Walnussschale herauspult. Nur wenn sie erschöpft und verschwitzt nebeneinander daliegen, gibt er ihr manchmal Einblicke in die Jahre seiner Jugend. Er erzählt, wie sie auf Bäume kletterten, in Wildbächen angelten, in einem Heuschober schliefen und mitten in der Nacht von Leuten aufgeweckt wurden, die ausgeschickt worden waren, um sie zu suchen und sie nach Hause zu ihrer in Tränen aufgelösten Mutter zu bringen. Immer war er mit seinen Brüdern unterwegs, aber am häufigsten erwähnt er Alexej. Er war es, der nachts aufs Kirchendach kletterte und die Glocke läutete. Er stahl den Schlüssel zur Speisekammer, wo sie sich mit gebratenen Fasanen und Blini vollstopften, bis ihnen schlecht wurde.
    Auf der Wassiljewski-Insel, nicht weit von der Kunstkamera entfernt, steht ein Haus. Die Treppe ist aus gewachstem Kiefernholz und hat ein weiß gestrichenes Geländer. Es gibt sechs Zimmer im ersten Stock, im Erdgeschoss einen großen Salon mit einer Ottomane, auf der ein Eisbärenfell liegt, ein Esszimmer, ein Klavierzimmer und eine Küche. Irgendwo sind auch Kammern für die Dienstboten, aber Katharina hat sie nie gesehen. Die Haushälterin und ihr Mann, die dort wohnen, sind Leibeigene der Familie Orlow, ebenso wie die farbenfroh kostümierten Köchinnen, Dienstmädchen und Lakaien, die neugierig durch Türspalte und Fenster lugen, wenn Katharina da ist, und miteinander tuscheln und kichern. Die Haushälterin Annuschka kannte die Brüder Orlow schon, als sie noch kleine Buben waren. »Was für eine wilde Bande«, seufzt sie, aber ihre wässrigen Augen leuchten. »Andauernd haben sie irgendwelchen Unfug getrieben, und der junge Herr Alexej war der Schlimmste von allen.«
    Wassili, Fjodor, Malanja … zu jedem dieser Namen von Dienstboten gehören besondere Geschichten, die sich die Großfürstin nicht alle merken kann, aber das macht nichts, es genügt, wenn sie lächelt und hin und wieder ein paar kleine Ge
schenke mitbringt. Annuschka betrachtet die Spitzenmanschetten und den Walbeinknopf mit Perlmutt, die Katharina ihr überreicht, voller Andacht, als wären sie kostbare Reliquien. »Und die hat wirklich unsere Matuschka getragen?«, haucht sie ehrfürchtig. Aber sie freut sich auch über Schmuck aus roten Glasperlen, die in komplizierten Mustern aneinandergereiht sind.
    Â»Gast im Haus, Gott im Haus«, sagen die Dienstmädchen, wenn die Großfürstin zu Besuch kommt, was sie freilich nicht hindert, einander wissende Blicke zuzuwerfen: All ihrer Frömmigkeit zum Trotz sind sie doch voll frivoler Bewunderung für ihren schneidigen jungen Herrn, der eine solche Eroberung gemacht hat.
    In diesem Haus, in dem sie sich mit ihrem Liebhaber trifft, finden sich abends Zigeuner ein, die sie mit ihren Liedern und wilden Tänzen unterhalten. In diesem Haus nennt man sie nasha , die Unsere. Und wirklich: Sie ist dort daheim, sie ist eine von ihnen, sie gehört zur Familie, zu einer Familie, die in der Zeit der Not wie auch

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