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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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sie die Stadt hinter sich gelassen haben, wird der Schlitten schneller. Er fliegt nur so dahin durch die eisige Landschaft. Die Glöckchen am Zaumzeug klingeln. Der Kutscher – gut bezahlt, damit er schweigt – dreht sich kein einziges Mal um.
    Ihre Hand, die Finger weit gespreizt, streicht über seinen Oberschenkel. Es ist köstlich – die geflüsterten Liebesworte, die flammende Leidenschaft, die sie ganz ausfüllt, dieses Hinschmelzen vor Begehren. In Momenten wie diesem kann sie fast glauben, dass nichts sie je wieder trennen wird.
    Und dann plötzlich ein Schlag, schwarze, undurchdringliche Finsternis bricht über sie herein. Als sie wieder zu sich kommt, liegt sie im Schnee. Ihr ganzer Körper tut weh, in ihrem Kopf pocht ein scharfer Schmerz. Und im Großen Wagen hoch am Himmel tanzen silberne Funken. Stanislaw kniet vor ihr, die Hände zum Gebet gefaltet.
    Sie hat keine Erinnerung daran, was passiert ist, und muss es aus den abgerissenen Worten ihres Geliebten zusammenstückeln: Das Pferd ist gestolpert und gestürzt, der Schlitten ist umgekippt, und sie wurde aus seinen Armen ins Dunkel geschleudert.
    Â»Mein Kopf«, flüstert sie. Ihre Augen sind ganz schwer, ihre Gedanken surren wild durcheinander.
    Â»Du musst auf einen Stein aufgeschlagen sein«, sagt Stanislaw. Er stöhnt auf. »Ich dachte schon, ich hätte dich verloren.«
    Ãœbelkeit steigt in ihr auf, als sie den Kopf ein wenig hebt. Ihre Lippen sind aufgesprungen, sie schmeckt Blut in ihrem Mund. Der Kutscher hat es geschafft, den Schlitten wieder aufzustellen, und drängt sie, einzusteigen. Sein grobes, von rötlichen Pockennarben entstelltes Gesicht ist vor Angst verzerrt. »Hoheiten«, stammelt er immer wieder, »verzeihen Sie mir.« Einen Moment lang sieht es so aus, als würde er sich vor ihnen niederwerfen. »Haben Sie Erbarmen mit mir.«
    Der Schnee fühlt sich unglaublich weich und tröstlich an. Stanislaw hat etwas davon auf ihre Stirn gelegt, um sie zu kühlen. Etwas Schmelzwasser rinnt über ihren Hals. Was jetzt?, fragen seine Augen.
    Â»Hilf mir auf«, flüstert sie.
    Er streckt ihr die Hand hin, und sie fasst sie. Langsam zieht sie sich hoch. Der Kutscher macht Anstalten, ihr beim Gehen behilflich zu sein, aber sie scheucht ihn weg. Ihre Rippen sind geprellt, und der Rücken tut ihr weh. Offenbar ist auch das rechte Knie verletzt.
    Auf die Schulter ihres Geliebten gestützt, hinkt sie zum Schlitten. Stanislaws Kinn zittert, seine Zähne klappern. Er hat gebetet, er hat Gott um ihr Leben angefleht, hat ihm seines und all sein Glück als Opfer angeboten. Das alles erzählt er ihr nun, ihr, die ihm teurer ist als seine eigene Seele. »Wenn du gestorben wärst«, versichert er, »hätte ich mich in der Newa ertränkt.«
    Als sie wieder im Schlitten sitzt, warm umhüllt von den Pelzen, schließt sie die Augen und versucht die Momente, die aus ihrer Erinnerung gelöscht sind, zurückzuholen. Aber es gelingt ihr nicht.
    *
    Ihren Freunden und ihren Spionen entgeht nichts. Jedes Mal wenn die Kaiserin röchelnd nach Atem ringt, wenn sie von krampfartigen Hustenanfällen gepackt wird, wenn sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ans Herz fasst, melden sie es sogleich der Großfürstin. »Sie ist schreiend aufgewacht«, berichten sie. »Weigert sich zu erzählen, was sie geträumt hat.«
    Â»Jetzt dauert es nicht mehr lange, Katharina. Deine Zeit wird bald kommen.«
    Sie hört zu und sammelt Informationen, Worte, die jemand im kaiserlichen Schlafgemach, im Arbeitszimmer des Kanzlers, in den Gesindestuben erlauscht oder aufgeschnappt hat, Passagen aus Briefen und Dokumenten, die nicht für die Augen Katharinas bestimmt sind. Gefährliche Geheimnisse, die sie nur ihrem Gedächtnis anvertraut und niemals verräterischem Papier. Sie erfährt so allerlei verborgene Dinge und bekommt außerdem bestätigt, dass es an diesem Hof, wo manche sie immer noch eine deutsche Hausfrau mit einem spitzen Kinn nennen, Leute gibt, die für sie ihr Leben aufs Spiel setzen. Nicht aus Freundschaft oder Mitleid, sondern weil sie ihre eigenen hochfliegende Pläne haben.
    Ich werde euch nicht enttäuschen, denkt sie.
    Â 
    Â»Was will der hier?«, fragt Katja Daschkowa flüsternd, aber so, dass es im ganzen Raum deutlich vernehmbar ist. Sie rümpft die Nase wie ein Kaninchen. Ihre Oberlippe spannt

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