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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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dass er ihr immer noch einen Streich spielen könnte. Sein Hals ist dick angeschwollen und wirkt sonderbar kurz. Seine Lippen sind schwarz. Ein stechender Geruch von Kot geht von ihm aus.
    Alexej Orlow, der Mörder ihres Mannes, steht neben der Kutsche. In dem violetten Dämmerlicht wirkt die Narbe in seinem Gesicht weißer und wilder gezackt, als Katharina sie in Erinnerung hat. Seine großen Hände hängen schlaff an seiner Seite. »Wir waren betrunken … er hat mich beleidigt … einen Parvenü hat er mich genannt und einen Lügner.« Alexejs Stimme ist heiser. Vergeben Sie mir oder machen Sie mir ein schnelles Ende, hat er geschrieben.
    In seinen Augen ist keine Reue zu erkennen. Er ist überzeugt, dass er das einzig Richtige getan hat. Mit Zaudern und Zögern kann man kein Reich regieren. Ein kühner Streich bewirkt, dass keiner mehr aufbegehrt. Vorausschauend handeln bedeutet nicht, irgendwelche leeren Spekulationen darüber anzustellen, was vielleicht alles geschehen könnte oder auch nicht.
    Es ist Blut vergossen worden?
    Wo gehobelt wird, da fallen Späne.
    Erbarmen? Gerechtigkeit?
    Erbarmen mit wem? Gerechtigkeit in jedem Fall und um jeden Preis?
    Was sie in Alexejs grauen Augen liest, ist dieses: Wenn Sie Ihrem Mann den Thron rauben, sollten Sie dafür sorgen, dass er ihn sich nicht zurückholen kann. Solange er am Leben ist, kann sich jeder, der Sie entmachten will, auf ihn berufen.
    Wenn Sie nicht zuerst zuschlagen, laufen Sie Gefahr, selbst umgebracht zu werden.
    Wenn Sie Ihre Feinde verschonen, werden sie neue Kräfte sammeln und Sie angreifen, wenn Sie es am wenigsten erwarten.
    Wenn Sie die Macht haben wollen, müssen Sie auch den Mut haben, sie zu benutzen.
    Sie wirft noch einen letzten Blick auf Peter. Tot sieht er kleiner aus, fast kindlich. Seine Schultern sind mager und schmächtig. Der Geruch von ladan hängt in der Luft, dem süßen russischen Weihrauch. Die Orlows tragen den Toten nichts nach.
    Vielleicht sollte sie ihm über die Wange streichen, um ihn nicht ohne eine Abschiedsgeste aus ihrem Leben zu entlassen. Oder das Tuch um seinen Hals zurechtzupfen.
    Sie lässt es sein.
    Man soll nicht künstlich in die Länge ziehen, was schon zu Ende ist. Die Toten brauchen keine Gesten. Sie fühlen die Kälte des Grabes nicht.
    Â»Bringt ihn ins Newski-Kloster«, sagt sie und geht.
    *
    Das Glück ist nicht blind. Glück ist eine Reihe wohlüberlegter Schritte.
    Jeden Morgen um sechs Uhr sitzt sie an ihrem Schreibtisch, die Feder in der Hand, neben sich eine Tasse schwarzen Kaffee. Dem König Friedrich von Preußen sendet sie Melonen und Dromedare zum Geschenk nebst vagen Bündnisversprechungen. Maria Theresia von Österreich lässt sie einen kostbaren Rosenkranz aus Edelsteinen überbringen und versichert ihr, dass Russland ein gottesfürchtiges christliches Land ist. Man muss ständig wachsam sein und immer bereit, neue Koalitionen einzugehen, damit das Gleichgewicht der Kräfte gewahrt bleibt. Wenn Russland zu viel Macht gewinnt, werden seine Freunde schnell die Seite wechseln.
    Sie hat in ihrem Arbeitszimmer ein Bild Peters des Großen aufhängen lassen. Der hünenhafte Zar, gekleidet in eine schmucklose Uniform, stapft mit weit ausgreifenden Schritten über ein grünendes Feld, gefolgt von zwergenhaften Höflingen, denen es sichtlich schwerfällt, sein Tempo mitzuhalten. Die erhobene Hand des großen Zaren weist die Richtung, sie deutet nach
Westen. Das Gemälde wirkt ein bisschen grobschlächtig – der Künstler war ein ungebildeter Leibeigener, und die Perspektive stimmt nicht –, aber Katharina gefällt es besser als das Bild, das Peter den Großen auf dem Sterbebett zeigt, die Augen geschlossen, den irdischen Dingen entrückt.
    Auf dem Schreibtisch liegen Landkarten. Alte und neue. Einige zusammengerollt, andere ausgebreitet, die Ecken beschwert mit irgendwelchen Dingen, die gerade zur Hand waren: ein Tintenfass, eine Marmorstatuette, ein Band Montesquieu, die Seiten noch nicht aufgeschnitten.
    Russland ist ihr Reich. Im Süden die Osmanen. Im Westen Polen. Beide Nachbarn sind schwach, verweichlicht, es herrscht Unordnung, alles ist im Fluss. Das osmanische Reich, berauscht von längst vergangener Herrlichkeit, ist ein Schlangennest. Polen ist ein Koloss auf tönernen Füßen: Jeder der großen Herren des Landes besitzt mehr Macht als ein

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