Die Zarin der Nacht
Arbeitszimmers sitzt mit gekreuzten Beinen ein Page. Die Kaiserin fragt sich, was er da eigentlich zu tun hat. Soll er verhindern, dass die Tür zuschlägt? Sie ruft ihn herein.
Der Junge ist ganz verschreckt. Seine Augen irren hin und her, seine Ohren zucken wie die eines nervösen Pferds. Er muss gegen den Fluchtinstinkt ankämpfen.
»Nein, du hast mich nicht gestört«, beruhigt sie ihn. »Ich will dich nur kennenlernen.«
Seine Hände zittern.
»Wie heiÃt du? Wo kommst du her? Wo sind deine Eltern?«
Taras heiÃt er. Er kann sich noch gut an seine Mama erinnern. Sie sah so schön aus in ihrem Sarg. Sie hatte ihre besten Kleider an, von ihr selbst hübsch bestickt und ordentlich gebügelt. Sie ist am bösen Blick gestorben, erklärt der Junge. Eine Nachbarin hat sie umgebracht, weil sie ihre braune Legehenne haben wollte. Sein Vater ist gestorben, als der Junge noch ein Baby war.
Plündernde Kosaken? Ein Brand? War er Opfer oder Täter? Sie fragt nicht nach. Gewalt aller Art ist normal. Die Welt ist voll davon. Das weite flache Land liegt schutzlos offen da. Die Erinnerung an die Raubzüge der Tataren ist noch frisch in Russland. Alle sieben Jahre kommen sie wieder, sagt man, wenn die Kälber Milchkühe geworden sind, und die kleinen Mädchen junge Frauen, begehrte Ware auf den türkischen Sklavenmärkten.
»Wie war das dann, als du mit deiner Mutter allein warst?«, fragt sie stattdessen. »Hast du ihr bei der Arbeit geholfen, Wasser geholt, Kleinholz zum Anzünden?« Sie weià nicht so genau,
was die Kinder der Armen hier machen. In Zerbst haben sie die Hühner gefüttert, den Hof gekehrt, Botengänge erledigt, sich um kleinere Geschwister gekümmert.
Taras nickt. Sie liegt mit ihren Vermutungen nicht weit daneben. Es gab bei ihm zu Hause auch Gänse und Enten und einen Hahn, der ihn mit seinem Krähen geweckt hat. »Einmal hab ich ihm ein paar Schwanzfedern ausgerissen, und da hat er mich gehackt.« Die Narbe an seiner Hand ist deutlich zu erkennen. »Als ich noch zu klein war zum Helfen, hab ich zu ihr gesagt, ich helfe ihr weinen.«
»WeiÃt du, was Freiheit ist, Taras?«, fragt sie, aber das ist zu abstrakt für ihn, und er zwinkert nur unsicher mit den Augen. Sie versucht es anders: »Sprich mir nach: Es steht mir frei ⦠«
»Es steht mir frei, Majestät«, wiederholt der Junge gehorsam, die dunkel glänzenden Augen geschlossen, damit er sich besser konzentrieren kann. Er hat nichts verstanden, schon gar nicht die Ironie, die in seinen Worten liegt.
»Nein, so war es nicht gemeint. Du sollst den Satz ergänzen . Ohne meine Hilfe.«
Taras blickt zu Boden. In einem seiner Schuhe klafft ein Riss, schmutzige Haut ist zu sehen. Tragen Kosaken keine Socken?
So funktioniert es nicht. Für ihn fühlt es sich wahrscheinlich so an, als müsste er seine Sünden beichten.
»Manche Dinge sind dir verboten, Taras. Was zum Beispiel?« Ja, so ist es leichter.
»Ich darf meinen Posten nicht verlassen, Majestät. Ich darf die Tür nicht zufallen lassen. Nicht auf den Boden spucken. Fluchen.« Es geht ihm so flüssig von den Lippen, dass ihr klarwird, dass er die Liste unendlich fortführen könnte. Sie gibt es auf und wechselt das Thema.
Sie lässt ihn von dem Dorf erzählen, in dem er aufgewachsen ist. Von Hexen, die Brunnen vergiften, von Teufeln, die in Gestalt von schwarzen Katzen umherschleichen, Milch in Kuheutern gerinnen lassen und schwangere Frauen oder trächtige
Haustiere verwünschen, sodass sie Missgeburten zur Welt bringen. Eine Ziege mit zwei Köpfen. Ein Kind, das weder ein Junge noch ein Mädchen war. Die Männer des Zaren haben sie fortgebracht. Man hat nie wieder etwas von ihnen gehört.
Ob er weiÃ, wer Peter der GroÃe war, fragt sie.
Ja, Batuschka . Er war gut zu seinem Volk. Manche Alte nennen ihn den Antichrist, aber das stimmt nicht.
Taras ist merklich aufgetaut. Wird er diese Unterhaltung in guter Erinnerung behalten? Vielleicht später einmal seinen Kindern davon erzählen? Wie alt mag er sein? Um die vierzehn? Ein bisschen älter als Paul? Aber Taras hat ein anderes Zeitgefühl als sie und weià nicht, in welchem Jahr er geboren ist.
»Jetzt geh«, sagt sie und überlegt, was sie ihm schenken könnte. Ein bisschen Geld? Einen Ring? Aber den würde man ihm bald stehlen oder abschwatzen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher