Die Zarin der Nacht
nimmt einen Bogen Papier vom Schreibtisch und zeichnet eine Kaiserin mit einer groÃen Krone auf dem Kopf. Vor ihr ein kleiner Junge, der eine Tür aufhält. Für Taras zum Andenken an unsere Unterhaltung, schreibt sie und unterzeichnet mit Kaiserin Katharina, Moskau, August 1767.
Taras nimmt das Blatt so freudestrahlend entgegen, dass ihr ganz warm ums Herz wird. Er faltet das Papier mit spitzen Fingern zusammen und steckt es in seine Brusttasche. Sie wird den Oberhofmeister anweisen, den Jungen etwas Nützliches lernen zu lassen, mit dem er später seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Ihn zu fördern. Der Junge soll Lesen und Schreiben und Rechnen lernen. Vielleicht könnte man ihn zum Landvermesser ausbilden lassen? Ein Reich, das sich ausdehnt, wird Landvermesser brauchen.
Die Welt ist voller Verbote. Dies darfst du nicht tun und jenes auch nicht, sagen die Mutter, der Pope, der Herr und die Herrin, Respektspersonen und Vorgesetzte, Lebende und Tote. Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen. AuÃer im Krieg. AuÃer wenn Gott oder deine Kaiserin es befiehlt.
Wie hütet man einen Sack Flöhe? Wie fährt man in einem Sieb übers Meer?
Wenn man Kaiserin ist, muss man es versuchen.
*
Es ist seine Abwesenheit, die ihr zuerst auffällt. Sie vermisst sein überschwängliches Lachen. Seine theatralischen Gesten, die die Anspannung lösen. Seine geistreichen Bemerkungen, die nur er ihr zu FüÃen zu legen wagt. Wie die, als sie ihn etwas auf Französisch fragte und er auf Russisch antwortete, denn »ein Untertan sollte in der Sprache antworten, in der er seine Gedanken am besten ausdrücken kann, und ich studiere das Russische seit über zwanzig Jahren.«
Seine Wohnung im Palast wurde in groÃer Eile geräumt, nur in der Sonne tanzender Staub blieb zurück. Ein eisernes Gestell ohne Bettzeug. Ein Waschtisch mit einer trocken gewischten Porzellanschale. Auf dem FuÃboden nichts auÃer zerknüllten Seiten mit unfertigen Liebesgedichten, einem Knopf aus Fischbein, ein paar zerbrochenen Federkielen. Wenn sie ihren cavaliere valante nicht besser kennen würde, hätte sie eine Zählung des Silbers veranlasst. Nur Diebe verschwinden auf diese Weise.
Grigori Orlow zuckt die Achseln. Aus Potjomkin wird man nicht klug. Er ist, wie Katzen, auf rätselhafte Weise eigensinnig. Heute noch hier, morgen schon fort. Vielleicht vertrieben? »Durch eine Frau, die auf sein Heiratsversprechen pocht?«, schlägt er vor. »Ausstehende Schulden?«
Ihre Spione werden deutlicher. Grigori Potjomkin hat sich aus dem irdischen Getümmel zurückgezogen. Er lebt allein vor den Toren Sankt Petersburgs. Er trifft niemanden, studiert religiöse Bücher, betet stundenlang, meditiert. Er hat sich einen langen Bart wachsen lassen.
Wieso?
Es hat einen Unfall gegeben. Er hat sein linkes Auge verloren. Nun hält er sich für abstoÃend.
Gerüchten zufolge hatten die Orlows genug von Potjomkins Unverschämtheiten. Sie luden ihn zu einer Partie Billard in einer Schenke ein und schlugen ihn bewusstlos. Schnitten ihm das Haar ab. Rissen ihm ein Auge aus. Warnten ihn, sich von ihr fernzuhalten.
»Unsinn, Katinka.« Grigori Orlow kraust die Nase, als röche er etwas Verdorbenes. Nichts Düsteres liegt in den Augen ihres Liebhabers. Kein eisiger Unterton in seiner Stimme. »Das Leben ist gut zu mir gewesen, warum sollte ich mich rächen wollen? Ich habe doch dich! So wichtig ist der Zyklop nun doch nicht, Katinka.«
Der Zyklop? Ein einäugiger Riese? Stark, störrisch, zu Jähzorn neigend. Einer, der die Blitze für Zeus, die Pfeile für Artemis schmiedet?
Passt, denkt Katharina.
Schon bald hört man neue Gerüchte. Ein Schlag mit einem Tennisball hat eine Entzündung hervorgerufen. Die sich verschlimmerte. Ein Bauernquacksalber durfte Grischa gegen besseres Wissen mit seinen Mittelchen behandeln. Das Auge ist nicht verloren, nur erblindet. Verbirgt sich hinter Hautfalten.
Sie schickt einen Freund mit einem Geschenkkorb und einer Nachricht zu seinem Haus: Es ist höchst bedauerlich, dass ein Mensch mit solch seltenen Vorzügen für die Gesellschaft, das Vaterland und all jene verloren ist, die ihn schätzen und ihm aufrichtig gewogen sind.
Sie weiÃ, dass Grischa Potjomkin einer gut inszenierten Rückkehr nicht widerstehen kann â eine schwarze Klappe über dem schlimmen Auge, einen
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