Die Zarin der Nacht
soll. Vernehmungsprotokolle, Zeugenaussagen von Opfern, Beschreibungen der Schäden in den Städten, die aus der Hand der Rebellen befreit wurden.
Einem der Berichte ist ein zusammengefaltetes Blatt Papier beigelegt. Sie entfaltet es und erkennt es sofort wieder. Die Kaiserin im Gespräch mit einem Jungen ist darauf gezeichnet, und es ist von ihr selbst unterschrieben.
»Wie kommt das in diese Akte?«, fragt sie und denkt zurück an den Tag in Moskau, als ihr ein Kosakenkind erzählte, dass es seiner Mama beim Weinen geholfen hat.
Man hat die Zeichnung neben der verstümmelten Leiche eines jungen Mannes gefunden. Er war ein vielversprechender Schreiber in irgendeiner Behörde in Kasan, der gut mit Zahlen umgehen konnte. Er war mit der Tochter eines Ladenbesitzers verlobt. Bevor man ihn umbrachte, musste er zusehen, wie ein paar von Pugatschows Banditen seine Verlobte vergewaltigten. Sie schnitten ihm die Zunge aus dem Mund, damit er sie nicht verfluchen konnte.
Das alles erzählt sie schluchzend Grischenka. Er ist aus seiner Wohnung zu ihr hinaufgeeilt, als er sie aufschreien hörte. Er hält sie in seinen Armen und blickt ihr unverwandt in die Augen. Er weià es, wenn sie leidet.
Sie zeigt ihm die Zeichnung. Die Kaiserin auf dem Thron, eine Hand erhoben, vor ihr ein ernst dreinblickender kleiner Junge.
»Er hatte es im Futter seiner Jacke versteckt«, schluchzt sie. »Es war sein kostbarster Besitz. Dieses Stück Papier hat ihn das Leben gekostet. Manchmal ist es so schwer ⦠wie soll man so etwas vorhersehen ⦠wissen â¦Â«
Grischenka streicht ihr übers Haar. Er unterbricht sie nicht. Als ihre Stimme versagt, beugt er sich zu ihr hinunter.
Was sie ihm sagen will, ist dieses: Es tut weh, wenn ein Akt der Freundlichkeit einem unschuldigen Menschen den Tod
bringt. Wenn in einem tobenden Mob das Schlimmste im Menschen zum Ausbruch kommt.
Wir sind kleine Boote der Vernunft, die auf einem Meer von Unwissenheit treiben.
Grischenka streichelt sie zärtlich. »Ich gehe erst, wenn du wieder lächelst«, sagt er.
*
»Wenn ich groà bin, Maman, mache ich Darja zur Königin von Polen! Warwara Nikolajewna sagt, ein Kaiser kann alles machen, was er will.«
Das ist Pauls Stimme. Seine Mutter glaubt immer noch, dass alle seine Defizite zu beheben sind. Wenn er ein bisschen Speck ansetzt. Wenn der Ausdruck schmollender Gleichgültigkeit aus seinem Gesicht verschwindet. Das Fleisch scheint von seinen Wangenknochen nach unten zu rutschen, wodurch die Augen gröÃer und wässriger wirken. Gewissenhaft macht er seine täglichen Schwimmübungen. Er zeichnet die Pflanzen, die er bei seinen Wanderungen mit seinem Lehrer gesammelt hat. Die Aufsätze, die er schreibt, sind stilistisch anspruchslos, aber nicht ganz ohne Charme: Der russische Hof ist prächtig und gebildet. Das Reich ist wichtiger als alles Gleichgewicht der Macht in Europa. Peter der GroÃe war hochgewachsen und gut gebaut.
An einem anderen Tag sieht sie ihren Sohn wild zappelnd auf dem Boden liegen, festgehalten von seinen Spielgefährten. Der kleine Kurjakin kniet auf seinen Oberarmen und hat die Hände an seiner Kehle.
»Was macht ihr da?«, schreit sie entsetzt und stürzt auf sie zu.
Der kleine Kurjakin lässt von seinem Opfer ab. Paul setzt sich auf. Er hustet und keucht, Speichel läuft ihm übers Kinn. An seiner Kehle ist ein schmutziger Fingerabdruck zu sehen. »Wir spielen nur, Maman«, murmelt er.
»Was ist das für ein scheuÃliches Spiel?«
Paul lässt den Kopf hängen. »Eine Art Theaterstück.«
»Worum geht es in dem Stück?«
»Ich weià es noch nicht genau. Wir sind gerade erst beim Proben.«
»Wen hast du gespielt?«, fragt sie.
»Ich war der Zar.«
»Und was hat er gemacht?« Sie deutet auf den kleinen Kurjakin, der sich unter dem Tisch verkrochen hat. »Er wollte dich töten, oder?«
»Ja.«
»Warum?«
»Um mich zu bestrafen.«
»Wofür?«
Paul murmelt etwas von Mördern, die überall lauern. Von Sünden, die zu einer reiÃenden Flut angeschwollen sind wie die Wasser der Newa im Frühling.
»Wer bringt euch so einen Unsinn bei, Paul?«
Er entzieht sich ihr und steht auf. Da sieht sie einen groÃen feuchten Fleck auf seiner Hose. Sie klingelt nach dem Mädchen. »Der Kronprinz fühlt sich nicht wohl«, sagt sie. »Bringen Sie
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