Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
Vom Netzwerk:
ihn zu Bett.«
    Den beiden anderen Jungen ist nichts Brauchbares zu entlocken. Ihre Väter versprechen, sie würden die Wahrheit schon noch aus ihnen herausbekommen, aber alle ihre Bemühungen führen zu nichts.
    Die Pagen sind weniger verschlossen. Nachdem man ihnen damit gedroht hat, sie aus dem Dienst zu jagen, gestehen sie, dass Seine Hoheit von seinen Freunden verlangt hat, ihn zu erdrosseln. »Nicht so, dass er stirbt«, sagen sie, »nur ein bisschen würgen.« Zuerst wollte er, dass sie ein Stück Kordel verwendeten, das er von einem Vorhang abgeschnitten hatte, aber dann besann er sich anders: Sie sollten ihn mit den bloßen Händen würgen. Weil keiner freiwillig dazu bereit war, ließ er das Los
entscheiden, und es traf den Prinzen Kurjakin. Er musste seine Hände mit Ruß einschmieren, damit der Großfürst die Abdrücke der Finger an seiner Kehle sehen konnte.
    Warum?
    Die Pagen schwören, dass sie es nicht wissen. Im weiteren Verlauf des Verhörs kommt ein kurioses Detail ans Licht: Es war vorgesehen, dass Paul, nachdem sein Freund ihn gewürgt hatte, wie tot daliegen sollte, und dann sollten die beiden anderen sein Gesicht mit einem Stück Pergament bedecken. Es liegt in der Eichentruhe in seinem Schlafzimmer. Er hat etwas darauf geschrieben, aber die Pagen wissen nicht was; er hat das Pergament niemandem gezeigt.
    Die Truhe ist verschlossen. Der Schlüssel ist nirgends zu sehen.
    Sie überlegt kurz, ob sie einen Lakaien nach einem Brecheisen schicken soll, aber dann denkt sie, dass es nicht so schwer sein kann, den Schlüssel zu finden: Ihr Sohn ist nicht besonders klug. Sie sieht sich im Raum um. Stellen, an denen die Zimmermädchen den Schlüssel hätten finden müssen, kann sie außer Acht lassen.
    Ihr Blick fällt auf eine große chinesische Vase, die auf einem Marmorsockel steht.
    Sie fasst hinein, und da, vergraben in ein bisschen Sägemehl, ist der gesuchte Schlüssel.
    Die geöffnete Truhe enthält einige überraschende Dinge. Ein Kästchen mit Zinnsoldaten. Eine Brennschere. Eine blinkende Musketenkugel. Einen Schulterriemen mit Messingknöpfen, alle auf Hochglanz poliert.
    Das Pergament liegt auf dem Boden der Truhe, eingeschlagen in ein schwarzes Seidentuch. Es ist kaum groß genug, um Pauls Gesicht abzudecken. In makellos ordentlichen, reich verzierten Buchstaben steht darauf geschrieben: Fürst des Lichts und der Vernunft.
    *
    Der Hofklatsch erinnert an die Narren von einst. An Anna Leopoldownas frechen Zwerg, der seine kaiserliche Herrin mit abscheulichen Namen bedachte und wie eine Henne gluckte. Oder auf dem Rücken eines quiekenden Schweins in den Speisesaal ritt. Oder hinter den Höflingen her schnüffelte und laut die Namen ihrer Laster verkündete: Faulheit, Eitelkeit, Gier.
    Dreist wie ein Hofnarr zwinkert das Verlangen ihr aus ihren Papieren zu. Treibt sie in großer Hast durch die funkelnden Palastkorridore. Ihre Dienstboten blicken beiseite. Sie wissen, dass sie wegzusehen und wegzuhören haben, wenn die Kaiserin die mit grünen Teppichen belegte Treppe hinabeilt. Sie ist eine Frau, die die Nacht nicht erwarten kann.
    Die vergoldete Tür öffnet sich mit einem leichten Quietschen und gibt den Blick frei auf das breite Bett mit den seidenen Laken. Obenauf liegen lauter Kissen. Einige hat sie selbst aufwendig und reich bestickt. Eine Libelle mit durchsichtigen Flügeln. Ein Papagei mit einem langen Schwanz aus roten und gelben Federn. Wenn die Hände beschäftigt sind, kann der Verstand sich am besten auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist: etwa, wenn sie Petitionen begutachtet, Ukasse in Worte bringt oder eine Idee hat, die erprobt, akzeptiert oder verworfen werden muss.
    Kein Fitzelchen Zeit vergeudet. Süß oder nutzbringend jeder Augenblick. Alles andere zählt nicht.
    Die Sonne mag schon aufgegangen sein, aber Grischenka liegt noch schlafend auf dem Bett, dunkle Schatten auf den Wangen, die Arme ausgebreitet, Raum fordernd. Niemand könne ihn aufhalten, hört sie. Ein Rennpferd, das mit den Hufen scharrt. Übermütig, stolz. Und so sollte er auch sein. Die Finessen des Hofs muss er allerdings noch lernen: nicht zeigen, was man wirklich begehrt, seine Chancen abwägen, die Schachzüge des Gegners lange voraussehen.
    Er knirscht im Schlaf mit den Zähnen, dreht sich auf die Sei
te. Draußen im Hof fegen Diener die Überbleibsel vom

Weitere Kostenlose Bücher