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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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als Wasser, isst nichts als grobes Schwarzbrot und rohe Rüben.
    Hat er das nicht schon einmal getan?
    Â»Der Mann erklärt mir seine Liebe und sagt zugleich, er könne es niemals wagen, von seiner Liebe zu sprechen?« Sie lacht. »Was soll das bedeuten?«
    Der Freund bittet sie um Nachsicht: »Wahre Liebe ist voller Widersprüche, Majestät. Wahre Liebe ist Wahnsinn.«
    Â»Sind das seine eigenen Worte?«
    Â»Ja, aber das darf ich Ihnen eigentlich nicht sagen.«
    Generalleutnant Potjomkin hat Visionen. In einer davon geht er durch die Steppe und sammelt Worte. Sie sind wie Tautropfen, die an Grashalmen hängen. Er lässt sie in einen goldenen Kelch fallen, und wenn er so erschöpft ist, dass er nicht weitergehen kann, trinkt er sie.
    Â»Das sind ihre Worte«, sagt er. »Die Worte meiner Geliebten. Sie geben mir Kraft.«
    *
    Man kann Zeit in streng voneinander getrennte Abschnitte unterteilen. Soundso viel für Staatsgeschäfte, soundso viel für Her
zensangelegenheiten. Man zieht einfach eine Grenzlinie. Wenn das nicht genügt, wird sie einen Graben ausheben. Sie wird Wasser einleiten, wenn es nötig ist.
    Meine verschwendeten Jahre, hat Generalleutnant Potjomkin in seinem jüngsten Brief geschrieben, den sein Freund ihr gebracht hat. Voller törichter irdischer Hoffnungen und eitler Träume von Glück, die mir den Blick auf die ewige Liebe, den Ursprung aller Gefühle, trübten. Wieso sollte ich wünschen, in jenes Elend zurückzukehren?
    Sie legt einen Bogen steifes Briefpapier vor sich hin.
    Weil Ihre Kaiserin Sie braucht, schreibt sie. Ist das nicht genug?
    Der Bote kommt zurück vom Kloster und sagt: »Er antwortet nicht.«
    Â 
    In dieser Nacht wandert sie, eine Kerze in der Hand, durch die langen, weiten Korridore des Winterpalasts. Die Böden bestehen aus verschiedensten Hölzern, die zu Quadraten zusammengesetzt sind. Manchmal sind einzelne Quadrate mit Blüten oder Sternen verziert. Ihre Absätze machen ein klackendes Geräusch. Sie trägt rote Strümpfe, bestickt mit schwarzen Tulpen. Ihr Haar hängt offen herab.
    Man hat bereits neue Gemälde an den Palastwänden aufgehängt. Jedes eine Trophäe. Bei den scènes galantes bleibt sie stehen: Ein gestohlener Kuss. Eine kapriziöse Frau, die ihren mit einem Turban geschmückten Liebhaber schilt. Das Vermächtnis von Generationen französischer und englischer Künstler schmückt nun die Wände eines russischen Palasts.
    Ich habe euch dazu gebracht, den Blick nach Osten zu richten, sagt sie zu denen, die sie unersättlich nennen. Ein hungriges Russland könnt ihr nicht ignorieren.
    Aber in ihren Gedanken ist ein Spalt, durch den sie in eine schmutzige Klosterzelle blickt. Sie sieht eine schmale harte Pritsche, rissige Dielen, ein flackerndes Lämpchen vor der Ikone
des heiligen Gregor, der glaubte, der begrenzte Verstand des Menschen könne das unendliche Göttliche nicht begreifen. Dies ist nun mein Leben, so endet einer von Potjomkins Briefen . Das einzige Glück, das mir bleibt, da das, nach dem ich mich sehne, mir für immer verwehrt ist.
    Von draußen hallen die Schritte des Wachhabenden herein, der seine Runde dreht, dazu das warnende Gebell von Hunden.
    Grischa?
    Ihre Füße schmerzen, einer der roten Strümpfe hat an der Zehe ein Loch. In den langen Korridoren stößt sie immer wieder auf Überraschendes. Auf einem Fensterbrett schläft ein Mann. Ein zweiter liegt zusammengerollt wie ein Hund in einer Ecke und murmelt vor sich hin. Sie beugt sich über ihn und fährt zurück, so widerlich ist der Geruch nach Schnaps und Erbrochenem, den er ausströmt. Im Erdgeschoss, direkt vor der Palastküche, scheint eine zahnlose Alte etwas zu suchen. Sie bückt sich und hebt einen unsichtbaren Gegenstand auf. Ein Stück schwarzer Faden, wie sich herausstellt, denn sie präsentiert bereitwillig ihre Schätze: einen Zahnstocher, einen Krümel Sägespäne, einen kaputten Knopf aus Ebenholz. »Dinge verschwinden hier«, flüstert sie warnend. »Das sind allesamt Diebe hier.«
    In ihrem Schlafzimmer bringt die Kaiserin ihr Bettzeug in Unordnung, damit es so aussieht, als hätte sie darin geschlafen. Aber sie weiß schon, dass die Zofen sich nicht so leicht täuschen lassen werden.
    Sie ertappt sich dabei, wie ihre Lippen lautlos seinen Namen in all den verschiedenen Varianten aussprechen,

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