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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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über ihren Körper mehr.
    Â 
    9.45 Uhr
    Jemand muss das Fenster geöffnet haben. Die Luft, die hereindringt, ist kalt und duftet nach Holzfeuern.
    Alle beugen sich über sie. Sotow stellt einen Wandschirm neben die Matratze.
    Wieso habt ihr mich auf den Boden gelegt?, will sie fragen, aber ihre Lippen zucken nur kaum merklich. Andere Fragen gehen ihr im Kopf herum. Auf ihrem Schreibtisch liegen Papiere. Wichtige Papiere. Die letzte Fassung des Teilungsvertrags, die sie noch mit Anmerkungen versehen muss. Ein Schreiben an den schwedischen König, das sie entworfen hat und zu dem sie erst Besborodkos Meinung hören wollte, bevor sie weiter daran arbeitete. Lauter Papiere, die einstweilen vor neugierigen Blicken zu schützen sind. Ob Gribowski daran denkt und sie in einer Schublade ihres Schreibtischs einsperrt?
    Eine Uhr schlägt. Wieder ist eine Viertelstunde vergangen.
    Â»Es besteht immer Hoffnung«, antwortet Rogerson auf eine Frage. »Um so mehr, wenn der Allgemeinzustand gut ist und der Patient den Willen hat, wieder gesund zu werden.«
    Wieso hat sie den Doktor nicht hereinkommen gehört? Seine Hände sind kalt und klamm, seine kurzgeschnittenen Haare nass von geschmolzenen Schneeflocken. Als er sich über sie
beugt, sagt er etwas über das Wetter; die Straßen seien glatt, überall Unfälle, sein Schlitten sei bei der Admiralität aufgehalten worden.
    Da sind die wilden Hunde, denkt sie. Herrenlose Raubtiere, die nur ihre eigenen Gesetze kennen. Die diese Gegend als ihr Revier betrachten und es gegen jeden Eindringling verteidigen. Jäger und Aasfresser. Lecken ihre Wunden. Paaren sich. Ziehen ihre Jungen auf.
    Immer wieder wird gefordert, man solle sie zusammentreiben und abschießen, aber sie hat es nicht erlaubt.
    Â»Schlagfluss«, sagt Rogerson. Seine schiefen Zähne sind schwarz von Tabak. »Das Blut ist Ihrer Majestät in den Kopf gestiegen. Durch den starken Druck ist eine Ader geplatzt. Geben Sie mir meine Tasche … Lanzette … Verbandsstoff …«
    Wischka, die eben noch voller Freude und Hoffnung war, steht jetzt regungslos neben dem Wandschirm. Ihr Schatten fällt auf die Kaiserin. Auch Anjetschka bewegt sich nicht, aber irgendwie hat Rogerson nun seine Tasche. Das Schloss klickt.
    Â»Schnell!« Die Klinge einer Lanzette blitzt. »Halten Sie den Arm … fest drücken.«
    Er sagt nichts mehr, aber das ist auch nicht nötig. Er hat sie schon oft zur Ader gelassen, und sie weiß Bescheid. Blut kann sich verdicken. Man muss dafür sorgen, dass der Druck sich vermindert. Das Gleichgewicht der Körpersäfte muss wiederhergestellt werden.
    Â»Sollen wir Graf Besborodko verständigen?«, fragt Sotow. »Oder wird Ihre Majestät gleich wieder zu sich kommen?«
    Â»Ja«, sagt Rogerson. »Nein, ich meine: Ich weiß es nicht.«
    Seine Stimme klingt besorgt. Aber Rogerson war immer schon ein Skeptiker, das ist seine Natur.
    Dass Anjetschka schluchzt, wundert sie nicht. Aber Wischka?
    Der Kopfschmerz hat schon nachgelassen. Bald wird er ganz
verschwunden sein. Sie wird ihn besiegen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie Schmerzen hat. Sie denkt an Pferde, die gehorsam auf jede kleine Bewegung des Reiters reagieren.
    Der Arzt sagt: »Ich werde alles versuchen, was in meiner Macht steht. Das Übrige ist in Gottes Hand.«
    Der arme Rogerson kann nicht einmal einen Flohbiss behandeln, ohne zu betonen, dass seine Kunst letztlich gar nichts ausrichtet. Warum hat sie ihn so lange behalten?
    Es ist streng verboten, davon zu sprechen, dass die Kaiserin sterben könnte, oder es auch nur zu denken. Aber Gedanken lassen sich nicht verbieten.
    Wer von den Leuten im Raum trauert bereits um sie? Wer frohlockt? Und warum?
    Ein eiserner Ring umschließt eng ihren Kopf. Wie eines dieser Bänder, die Fässer zusammenhalten. Ein Gefühl angenehmer Schläfrigkeit lockt, aber sie widersteht der Versuchung.
    Â 
    9.48 Uhr
    Ihre Lippen sind ganz ausgedörrt. Die Leute im Raum unterhalten sich, als wäre sie gar nicht da, als wäre sie eine tote Krähe, die durch den rußigen Kamin gefallen ist. »Ihre Majestät ist … Ihre Majestät hat … zu viel gearbeitet … zu wenig Ruhe … dieser schreckliche Schock … darauf kann er nun wirklich stolz sein … diese Kanaille …«
    Warum gibt ihr niemand einen Schluck Wasser? Was kann wichtiger

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